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Die Guinness-Brauerei „Park Royal“ in London
28.10.2024

Giganten der Biergeschichte: William Sealy Gosset

Wissenschaftlicher Brauer | Eine Reihe wie die „Bier­giganten“ lebt natürlich auch von den Reaktionen unserer lieben Leser. Von Kritik, Empfehlungen und bisweilen, wie in diesem Fall, konstruktiver Mitarbeit. Die Herren Dr. Tullio Zangrando aus Pedavena (sicher einigen Lesern auch als Autor bekannt) und Manfred Moll haben diesen interessanten Herrn „gefunden“: William Sealy Gosset war der Mann, der die Statistik in die Brauerei einführte.

Niemand hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Bezug der höheren Mathematik oder der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Brauerei vermutet, von einfachen Sudhaus- und Ausbeuteberechnungen, „Brauer-Rechnen“ (Dreisatz etc.) und den üblichen Buchhaltungsdingen abgesehen. Mr. Gosset war der Erste, ein wahrer Pionier. Daher gebührt nicht nur ihm die Ehre einer Folge, sondern Dr. Tullio Zangrando und Manfred Moll ein herzliches Dankeschön für’s Entdecken.

Zwangsweise in die Emigration

Die Familie Gosset war in Frankreich eine alteingesessene Hugenotten-Familie. Das Toleranz-Edikt von Nantes vom 13. April 1598 gewährte den Hugenotten in Frankreich Frieden und gewisse Rechte.

Es wurde jedoch am 29. Oktober 1685 (nach gregorianischem Kalender am 8. November) durch Ludwig XIV. widerrufen. Dieser Widerruf kam einem Verbot des Protestantismus im katholischen Frankreich gleich und zwang nicht nur die Familie Gosset in die Emigration.

William Gosset – 1908 (Foto: University of St. Andrews, Schottland, https://mathshistory.st-andrews.ac.uk/Biographies/Gosset/)

Man wanderte über den Ärmelkanal nach England aus. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie danach, etwas unscharf definiert, mit „Armee- und geistlichen Traditionen“. Zur Familie gehörte auch Frederic Gosset, der als Colonel (Oberst) bei den Royal Engineers Dienst tat, einer Einheit militärisch arbeitender Ingenieure. 1875 heiratete Frederic seine Agnes Sealy Vidal. Am 13. Juni 1876 erblickte William Sealy Gosset in Canterbury das Licht der Welt.

Die Familie schien nicht ganz unvermögend zu sein, denn der Junge besuchte von 1889 bis 1895 die renommierte Privatschule Winchester College. Diese Schule existiert seit 1382 und ist damit die älteste, durchgehend bestehende Schule im Vereinigten Königreich.

Aus dieser Zeit in Winchester ist sein doch eher ungewöhnliches Hobby „Schießen“ überliefert. Nach der Schulzeit ging es weiter ans New College in Oxford, wo William Sealy Chemie und Mathematik studierte. Einer seiner akademischen Ziehväter war der berühmte königliche Astronom und Mathematiker George Biddell Airy. In beiden Fächern erreichte Gosset erstklassige Abschlüsse, 1897 in Mathematik und 1899 in Chemie.

Mit beiden Diplomen in der Tasche begann er in Dublin zu arbeiten, offiziell als Chemiker bei der Arthur Guinness Son & Company, aber im Grunde als Brauer in der 20-hl-Guinness-Versuchsbrauerei. Hier begann er, sich mit Statistik zu befassen und erzielte erste wichtige Erkenntnisse.

William Gosset – ca. 1935 (Foto: University of St. Andrews, Schottland, https://mathshistory.st-andrews.ac.uk/Biographies/Gosset/)

Die Brauerei Guinness verstand sich damals als landwirtschaftlich-chemischer Mischbetrieb. Gosset nahm die Herausforderung an. Er erarbeitete mit statistischen Mitteln die bestmögliche Gerstenqualität, sowohl für die Erzeugung der Gerste wie auch des daraus produzierten Bieres, vorläufig noch im Experimental-Maßstab.

In Dublin die Praxis, in London den Feinschliff

1905 kontaktierte er Professor Karl Pearson, einen bereits legendären Mathematiker und „Bio-Statistiker“. Dass Pearson Anhänger der heute zu Recht verpönten Eugenik war, der Lehre von der „Reinhaltung des Blutes einer Rasse“, tut hier nichts zur Sache und soll nur am Rande erwähnt werden. Gosset packte 1906 seine Koffer und zog vorübergehend nach London.

Ein Jahr verbrachte er bei Professor Pearson in dessen „Galton Eugenic Laboratorium“ an der Universität in London, blieb aber angestellt bei Guinness. Bei Pearson erlernte er die neuesten statistischen Methoden, wie zum Beispiel die Fehlerwahrscheinlichkeit des Mittelwertes sowie die Berechnung der Verteilung des Korrelationskoeffizienten. Diese neuen Erkenntnisse wandte er dann in der Guinness Brauerei an.

Pearson unterstützte den 20 Jahre jüngeren Gosset nach Kräften. Die sogenannte „Poisson-Verteilung“, die Grenzen der Normalverteilung, Standardabweichung und die Binominalverteilung waren sein tägliches Brot. Aber hier fiel bereits der Unterschied ins Auge, der Gosset am Ende erfolgreich machte: Während Pearson bei seiner Arbeit unbegrenzt viele Stichproben heranziehen konnte, musste Gosset hingegen versuchen, für die Brauerei mit möglichst wenigen Stichproben ein verlässliches Resultat zu erhalten. Die Lösung dieses Problems der „kleinen Stichprobengrößen in der Brauerei“ wurde Gossets Triumph in der Statistik für seinen Arbeitgeber.

Als „Student“ zu Ruhm und Ehre

Gosset war sich der Bedeutung seiner Arbeit wohl bewusst. Gerne wollte er andere daran teilhaben lassen, aber selber wohl auch ein wenig Ruhm und Ehre einheimsen. Das Teilen klappte, aber Ruhm und Ehre kamen letztendlich ganz anders als geplant. Denn sein Arbeitgeber Guinness verbot Gosset die Veröffentlichung jeglicher Erkenntnisse, die auf die Firma Guinness und das Thema „Bier“ irgendwelche Rückschlüsse zuließen.

Also wurde die ganze Arbeit grob verallgemeinert, und Gosset veröffentlichte seine Werke nicht unter seinem richtigen Namen, sondern unter dem Pseudonym „Student“. So erhielt Gosset anonymen Ruhm (und Ehre), die bis heute anhalten. Die „Student t-Verteilung“, der „Student-Test“ zur statistischen Signifikanz, ist bis heute jedem Statistiker ein Begriff. Der Name „Gosset“ aber eben weniger.

Im Brauereialltag blieb Gosset eher unauffällig, bis ihm andere Mathematiker eine „logische Revolution“ bescheinigten. Nach und nach wurde der „Student-t-Test“ für die Rohstoffe Gerste, Malz und Hopfen eingeführt, aber auch für das Bier selbst und für die Hefezellzahl.

Gosset braute in seiner Versuchsbrauerei mit neuen Gersten- und Hopfensorten, die er vom Feld bis zur Brauerei begleitete. Wir wollen hier nicht zu sehr ins Detail gehen, aber Gossets Arbeit brachte Guinness enorme wirtschaftliche Vorteile gegenüber dem Wettbewerb.

Die Versuchsresultate in Gossets Experimentalbrauerei wurden im Großmaßstab nämlich überaus erfolgreich eingesetzt. Gossets Berechnungen führten auch zu dem (mendelschen) Gedanken, dass seine Versuche nicht nur den Ertrag verbessern, sondern sich auch robustere Sorten erzielen lassen. 1922 stellte ihm sein Arbeitgeber einen Assistenten für die statistische Arbeit zur Seite. Gosset baute eine damals einzigartige statistische Datenbank auf.

1935, nach mehr als 35 Jahren in der Versuchsbrauerei in Dublin, war er reif für größere Aufgaben. Guinness verlegte im Zuge eines mittelschweren Handelskrieges zwischen Irland und Großbritannien seine Zentrale nach London. In der neuen „Park Royal Brewery“ wurde Gosset 1. Braumeister. (Fußnote: Die Park-Royal-Brauerei wurde 2005 geschlossen, aber der Autor verbrachte als Brauer dort 1989 ein wunderbares Auslandssemester!).

Aber auch als 1. Braumeister veröffentlichte der „Student“ fleißig weiter seine wissenschaftlichen Erkenntnisse.

Großes Vermächtnis

Den Umfang seiner Arbeiten können sich interessierte Leser gerne im Internet suchen. Es ist schlicht zu viel, um es hier aufzulisten. Erwähnt werden soll nur sein Durchbruch als „Student“ (1908): The Probable Error of a Mean, Biometrika, Band 6, Heft 1, 1908, S. 1–25.

Was machte die Bedeutung von Gosset für die Brauereien aus? Hier ein paar Stichworte:

Beim Hopfen berechnete Gosset eine Korrelation zwischen Weichharzgehalt und dem daraus produzierten Bier. Der Weichharzgehalt wurde zur fixen Routineanalyse. Bis 1925 wurde bei Guinness der Hopfen ausschließlich über den Weichharzgehalt gekauft.

Der Gerstenanbau war, was Stichproben angeht, eine noch größere Herausforderung – allein aufgrund der schieren Menge, der diversen Sorten, der vielen Bauern, der individuellen Düngung und der unterschiedlichen Böden. Von Jahrgang und Klima ganz abgesehen. Gosset machte statistische Untersuchungen zu allem – auch, wenn diese sich über mehrere Jahre erstreckten. Da Guinness auch selber mälzte, konnten Gossets Resultate sofort in die Praxis umgesetzt werden.

Selbst beim fertigen Produkt, in diesem Fall des Stouts von Guinness, arbeitete Gosset früh daran, die vorhandenen Analysedaten über statistische Methoden (Mittelwert/Standard Error) mit den Rohstoffen, den Produktionsbedingungen und dem Endprodukt in Zusammenhang zu bringen.

Da William Sealy Gosset nicht in Isolation arbeitete, nutzte er vorhandene Erkenntnisse anderer Wissenschaftler. Da er auch regen Austausch pflegte, so war er, was die Brauereiarbeit betrifft, seiner Zeit voraus. Sein Arbeitgeber schien das geahnt zu haben, anders lässt sich das Publikationsverbot nicht erklären. Doch seine Zeit war beschränkt.

Am 16. Oktober 1937, im Alter von lediglich 61 Jahren, verstarb William Sealy Gosset in Beaconsfield an einem Herzinfarkt. Die Beerdigung fand in Reading statt. Anschließend wurde seine Asche auf dem Friedhof Stoke Poges Memorial Gardens in Slough (in der Nähe von Beaconsfield) beigesetzt.

Sportliche Ehefrau, freundliche Nachrufe

Während seiner ersten Londoner Zeit hatte er die drei Jahre jüngere Marjory Surtees Phillpotts aus Bedford kennengelernt. Die Tochter eines landesweit bekannten Pädagogen und Erziehungsreformers war zu Beginn des Jahrhunderts eine bekannte Hockeyspielerin.

Mrs. Gosset als Hockeyspielerin, aufgenommen 1897 in Bedford (Foto: unbekannter Fotograf, public domain, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1897-MSP.jpg)

Nachdem die beiden geheiratet hatten, zog sie mit ihrem Mann nach Dublin. Gosset verschaffte offenbar auch seinem Schwager Geoffrey Arbeit bei Guinness.

Die Gossets hatten drei Kinder. Harry lebte von 1905 bis 1965, Bertha Marian von 1909 bis 2004 und Ruth von 1911 bis 1953.

Im Jahr 1910 nahm Mrs. Gosset das Hockeyspiel wieder auf. Von 1910 bis 1914 spielte sie für Irland, in den letzten beiden Jahren sogar als Captain. Eine ungewöhnliche Frau muss das gewesen sein, die als Captain zwei verschiedene Nationalteams (England und Irland) aufs Feld geführt hatte. Marjory Gosset starb am 12. Dezember 1965. Sie überlebte also ihren Gatten um 28 Jahre und auch zwei ihrer Kinder.

Wie war Gosset als Mensch? Freunde charakterisierten ihn wie folgt:

„Er war sehr freundlich und tolerant, und ohne jegliche Bosheit. Er sprach selten über persönliche Dinge, aber wenn er es tat, dann war seine Meinung es sehr wert, gehört zu werden und nicht im Geringsten oberflächlich.“

„Er wurde sehr geschätzt von allen, die mit ihm arbeiteten und bei einem ausgesuchten Kreis beruflicher und persönlicher Freunde. Alle verehrten ihn als höchst bescheidenen, beinahe sanften und doch tapferen Mann. Unkonventionell, doch mit reichlich Toleranz in Gedanken und Werk.“ Und er liebte das Segeln und Fischen, für das er noch kurz vor seinem Tod ein selbstgesteuertes Anglerboot erfand. Gosset war in der Tat ein Mann mit vielen Talenten.

Lernen Sie in unserem Dossier: Giganten der Biergeschichte weitere herausragende Persönlichkeiten der Braugeschichte kennen.

Quellen

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/William_Sealy_Gosset, abgerufen am 11.07.2024.
  2. https://mathshistory.st-andrews.ac.uk/Biographies/Gosset/, abgerufen am 11.07.2024.

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