Grutbier, Teil 1: Ursprung und Verbreitung
Begriffsdefinition und Grutrecht | Bevor Biere mit Hopfen gewürzt wurden, übernahmen diese Aufgabe Kräuter, Gewürze oder andere pflanzliche Zusätze: die Grut. BRAUWELT-Autor Dr. Markus Fohr begibt sich in einer dreiteiligen Artikelserie auf eine Reise zum Mittelpunkt des Grutbieres. Dabei verfolgt er die Spur der Grut von ihren Anfängen bis ins moderne Craft Bier-Zeitalter und zeigt, dass sie im Ursprung keine reine Würzmischung aus Kräutern war, sondern weitere Aufgaben erfüllte.
Erstmals begegnete dem Autor das Grutbier Ende der achtziger Jahre, als ihm ein Buch über das Bierbrauen im Rheinland in die Hände fiel. Schon damals keimte die Idee auf, selbst ein solches Bier zu brauen – doch die Zeit war noch nicht reif dafür. Und das Recht auch nicht. Noch nicht …
Dies änderte sich mit den besonderen Bieren nach § 9 Absatz 7 des Vorläufigen Biergesetzes, mit dem Anrollen der Craft Bier-Welle und dem Aufkommen der Biersommeliers. Mit dem Lahnsteiner Grutbier begann alles neu. Damit entstand auch ein neues Interesse am Grutbier. Welche dieser faszinierenden Biere gab es? Welche gibt es heute wieder? Welche wird es geben?
Willkommen zur Reise in die Grutbierwelt, die im Rahmen der Masterthesis des Autors am Institute of Masters of Beer entstand und nun in einer Kurzfassung in drei Teilen in der BRAUWELT zu lesen ist. Die Langfassung mit den vollständigen Literaturquellen wird es auch in Buchform geben.
Definition von Grutbier
Die Aufgabe der Masterthesis besteht darin, einen Überblick sowohl über die Grutbiere der Historie als auch der Gegenwart in der Welt zu liefern. Als erster Schritt resultiert daraus, den Begriff Grutbier zu definieren. Aus der Sichtung zahlreicher Quellen entsteht folgende Definition, die im Rahmen dieses Berichts Einsatz findet: Grutbier enthält als Ersatz oder als Ergänzung des Hopfens mindestens eine weitere würzende Zutat natürlichen, pflanzlichen Ursprungs wie Kräuter oder Gewürze.
Ursprung und Verbreitung des Grutbieres
Die ersten Quellen über das Bierbrauen im Allgemeinen und über den Einsatz aromatisierender Zutaten wie Kräuter und Gewürze im Besonderen reichen weit zurück in die Vergangenheit. Offenbar waren sie in der ganzen Welt verbreitet, so bei den Sumerern, Ägyptern, Griechen, Chinesen oder Indern, aber auch bei den Iren, Kelten und Germanen.
Die 5000 Jahre alte Hymne der Ninkasi erwähnt den Einsatz von Gewürzen, ohne deren Art zu präzisieren. Ninkasi ist die sumerische Göttin des Bieres und des Alkohols. Die Ninkasi-Hymne beschreibt in lyrischer Sprache den Brauvorgang.
Das Buch „Bierbrauen im Rheinland“ nennt neben dem Rheinland Belgien und die Niederlande als Verbreitungsgebiet des Grutbieres [1]. Die Bezeichnungen Grut, Gagel, Porsch und Porst verwendeten die Menschen in den verschiedenen Regionen oft unterschiedlich. Es ist daher im Einzelfall oft nicht zu klären, welche der beiden Zutaten zum Einsatz kam.
Die Biologin Susan Verberg bestätigt dies [2]. Doch da im Westen Deutschlands und in den Niederlanden der Gagel heimisch war, der Porst aber nicht, verwendete man ihrer Auffassung nach dort wahrscheinlich den Gagel. In anderen Regionen wie dem nordöstlichen Deutschland, Schlesien, Böhmen und Mähren verhielt es sich umgekehrt, hier kam der Porst zum Einsatz. Verberg erwähnt ferner das Brauen von Grutbier in England.
Dem Ethnopharmakologen Christian Rätsch zufolge erwähnt die nordische und mittelalterliche Literatur das Grutbier seit dem 5. Jahrhundert [3]. Insbesondere mit berauschenden Pflanzen gebraute Biere erwähnt er auch in Frankreich, in Ägypten, im Orient, in Sibirien und bei den Ureinwohnern Amerikas.
Der Historiker Christoph Pinzl nennt als Verbreitungsgebiet des Grutbieres explizit Westfalen, Rheinland, Nord- und Ostseeraum, Flandern, Skandinavien, Großbritannien und Russland. Die Verwendung von Kräutern oder anderen Pflanzen im Bier belegt er auch für Nordamerika und Kanada, wobei der Begriff Grutbier in diesem Zusammenhang nicht explizit fällt.
Selbst aus Afrika gibt es Quellen, die auf den Zusatz von Kräutern und Gewürzen zu den dort heimischen Bieren hinweisen.
So bleibt als Fazit, dass der Begriff Grutbier wohl aus Mittel- und Nordeuropa stammt. Biere, die unter die Definition des Grutbieres fallen, waren jedoch auf allen Kontinenten anzutreffen.
Der Ursprung des Begriffes Grut
Die Bedeutung des Wortes Grut reicht viel weiter, als es die Definition im Rahmen dieser Arbeit zeigt – und sie veränderte sich im Laufe der Zeit. Verberg schildert detailliert den Ursprung und die Entwicklung des Begriffes in ihrem 2018 erschienen Bericht „The Rise and Fall of Gruit“.
Verberg geht zunächst der Etymologie hinter dem Wort Grut nach. Im Niederländischen und Germanischen bedeutete es „grob gemahlene Körner“. Im Englischen findet sich die Bedeutung „Würze aus dem letzten Nachguss, Ale bevor es mit Hefe vermischt wird“.
In lateinischen Quellen des Mittelalters im 11. - 17. Jahrhundert aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden und England steht Grut gleichbedeutend mit fermentum, materia, levarentur und pigmentum. Dahinter verbargen sich Substanzen zur Herstellung von Bier.
Die älteste Erwähnung der Grut findet sich 946 bei Otto I. Auch wenn diese Jahreszahl nicht gänzlich gesichert ist, gibt es weitere Quellen aus dem späten 10. Jahrhundert, wonach Otto II. und Otto III. Grutrechte verliehen haben.
Obwohl einige Aspekte der Grut nach wie vor nicht völlig erforscht sind, kann man laut Verberg mit einiger Sicherheit folgende Punkte feststellen:
- Die Grut galt als fermentum, als Hilfsmittel bei der Gärung;
- die Grut galt als levarentur und war in der Lage, die Gärung zu fördern;
- die Grut musste zerstoßen werden – ein stampus war erforderlich;
- zur Herstellung der Grut kaufte man Holz, Torf und vermälztes Getreide oder Rohgetreide ein;
- das Gruthaus nutzte Fässer, um die Grut zu lagern und zu verkaufen;
- bei der Herstellung der Grut entstanden Treber;
- die Grut enthielt bestimmte Kräuter und Harze.
Malz, Harz und weitere Zutaten der Grut
Nach den Recherchen Verbergs kauften die Gruthäuser etwa in Zwolle, Zutphen und Deventer in den Niederlanden im 13. Jahrhundert große Mengen Getreide und in Relation noch mehr Kräuter ein. Sie boten ihren Kunden neben der Grut auch Dienstleistungen wie das Bereitstellen von Würze, das Mahlen von Getreide oder Kräutern sowie die Abgabe von Treber als Viehfutter oder als Rohstoff für die Bäcker an. Die eingekochte Würze war das Hauptprodukt. Man nannte es Grut, Gruit oder Fermentum.
Fässer waren laut Verberg ebenfalls zentraler Bestandteil des Inventars eines Gruthauses. Wofür sie zum Einsatz kamen, ist nicht definitiv geklärt, möglicherweise zur Lagerung von Malz in feuchtem Zustand. In jedem Fall waren die Zutaten zur Grut und auch die Grut selbst lagerfähig und somit ganzjährig verfügbar. Möglicherweise gab man der Grut zermahlene Kräuter zu.
Zusammengefasst führt Verberg vier Theorien an, die den „Getreideaspekt“ der Grut unterstützen:
Theorie des Archäologen Carl Pause: Zugabe von „gegierde sprijen“ – vergorenen Spelzen – zur Grut stattete diese mit aktiven Hefen aus und unterstützte so die Gärung [4].
Theorie des Historikers Hans Ebbing: Die Grut war aus Malz hergestellt, das aktive Enzyme enthielt. Gab man sie zu den oft unzureichend vermälzten und wenig enzymaktiven Malzen des Mittelalters hinzu, so unterstützten die Enzyme aus der Grut den Abbau von Stärke in Zucker und somit die Gärung.
Eine weitere Theorie sieht die Grut als Malzkonzentrat, konzentrierten Zuckersirup aus Getreide oder Malzextrakt. Diesen gab man der Würze zu, um die Gärung durch zusätzliche Zucker zu unterstützen. Um dem Grutbier Geschmack und ein wenig Haltbarkeit zu verleihen, ergänzte man zusätzlich eine Kräutermischung.
Eine Theorie, die auch Franz Meußdörfer vertritt, sieht die Grut als Hefekuchen oder brotartige Substanz mit lebensfähigen Hefezellen. Es war üblich, die Kräuter als Schutz gegen Verderb hinzuzufügen.
Bereits bei Pause begegnet uns eine Überlieferung aus Köln: „Weiterhin gab man ‚gegirde spryen‘ zu, die das Kölner Gruthaus von Müllern und Brauern bezog.“ Der Begriff ist auch als „sprijen“ oder „spelschen sprijen“ bekannt und steht für die vergorene Spreu des Dinkels. Um Dinkelkörner zu entspelzen, musste man sie in einem breiten Mahlspalt zwischen zwei Mühlsteinen zerreiben. Als Nebenprodukt entstehen dabei die Spelzen. An den Spelzen befindet sich Mehlstaub. An ihrer äußeren Seite haften zudem Mikroorganismen wie Hefen. Feuchtet man die Spelzen an, so beginnen sie zu gären. Aus dieser Beschreibung und aus der Tatsache, dass das lateinische Wort für die Grut fermentum lautet, folgert Pause die Natur der Grut nicht als reines Kräutergemisch, sondern auch als hefehaltiges Produkt, um die Gärung kontrolliert anzuregen. Wie all dies im Detail ablief, schildert Pause nicht.
Insgesamt enthüllen die Recherchen von Verberg die ursprüngliche Grut als Malzextrakt, was in dieser Form bisher nicht bekannt war. Schon länger bekannte Quellen bestätigen allerdings ebenso, dass die Grut Zutaten wie Getreide, vergorene Spelzen, Harz oder Kirschen enthielt und damit auch die Erkenntnis, dass sie im Ursprung keine reine Würzmischung aus Kräutern war, sondern weitere Aufgaben erfüllte.
Technik des Grutbierbrauens
Es bestehen mehrere Möglichkeiten der Zugabe der Grut:
- Am Beginn, während oder am Ende des Würzekochens;
- vor oder während der Gärung;
- während der Reifung – sozusagen ein „Grutstopfen“;
- eine Kombination dieser Möglichkeiten;
- Zubereiten eines separaten Sudes aus der Grut und Zugabe desselben im Sudhaus, während der Gärung oder Reifung oder zum fertigen Bier.
Das Grutrecht
Zumindest in Deutschland bestand nach Christoph Pinzl das Grutrecht, das Recht zum Handel mit der Grut. Grutherren schützten seine Einhaltung. Sie verlangten, dass nur Grutbier vor Ort getrunken werden durfte.
Carl Pause führt an: „Das Grutrecht war ein landesherrliches Recht, das der jeweilige Landesherr gegen Zahlung an Städte oder Privatleute weitergab oder verpachtete. Produziert wurde der Würzzusatz in speziellen Gruthäusern.“ Auch einige Familiennamen wie Grüter, Gruiter oder de Gruyter leiten sich von der Grut ab.
Das Grutrecht galt nicht nur für das gewerbsmäßige Brauen, sondern auch für das im Mittelalter gängige Brauen zur Eigenversorgung.
Ein Beitrag von Eul in der BRAUWELT bezeichnet die Grut-Abgabe als die erste Biersteuer in Deutschland im 9. Jahrhundert. Sie fiel auf die Grut an, die Eul als Bierwürze definiert. Ob er damit Kräuter meint, die zum Würzen des Bieres dienten, oder eingekochte Würze im Sinne eines Malzextraktes, ist nicht erkennbar.
Sehr detaillierte Ausführungen zum Grutrecht und den damit verbundenen Einnahmen enthält das Buch „Bierbrauen im Rheinland“. Demnach war das Grutrecht in seinem Ursprung sehr wahrscheinlich ein Recht des Königs. Häufig taucht auch der Begriff Grutgerechtsame auf. Wer immer das Grutrecht besaß, musste es nicht selbst ausüben, sondern konnte es weiter verleihen oder verpachten. Faktisch hatten bis ins 13. Jahrhundert alle bedeutenden rheinischen und maasländischen Territorialherren das Grutrecht zumindest in Teilen ihres Herrschaftsbereiches unter ihre Kontrolle gebracht. Als Inhaber des Grutrechts sind geistliche Würdenträger wie Bischöfe genauso belegt wie weltliche Herrscher in Form von Grafen. Neben Personen erwarben auch Klöster und später zunehmend Städte das Grutrecht.
Derselben Quelle ist zu entnehmen, dass mit der Verpachtung der Grut aufgrund ihres Monopolcharakters oft hohe Einnahmen verbunden waren. Trotz dieses Monopolcharakters konnten die Grutherren das Sammeln von Kräutern in der Natur zum Brauen für den Eigenbedarf zu Hause in der Praxis wahrscheinlich nicht völlig unterbinden.
Die wirtschaftliche Bedeutung des Grutrechts erkennen wir noch heute. Das Domizil Ludwigs vom Gruthaus in Brügge, Belgien, gleicht einem Königspalast. Und noch heute gibt es dort eine Gruthuusestraat, Gruthuusezimmer in den Hotels oder den Gruthuuse Hof als Gastronomie.
Hinweise auf Grutrechte oder ähnliche Regelungen außerhalb Deutschlands, den Niederlanden und Belgien hat der Autor im Rahmen dieser Masterarbeit nicht gefunden.
Zusammenfassend bleibt die Erkenntnis, dass das Grutrecht als königliches Recht entstand und ein Monopol auf Herstellung und Verkauf der Grut darstellte. Im Lauf der Zeit ging es vom König zunächst an geistliche und weltliche Würdenträger über und später an die Städte. Ähnlich wie das Reinheitsgebot übte das Grutrecht nicht nur Einfluss auf die Rohstoffe zum Bierbrauen aus. Es stellte auch ein entscheidendes Instrument wirtschaftlicher und politischer Macht dar.
Teil 2 der Artikelserie in BRAUWELT, Nr. 7, 2020, widmet sich den zum Grutbierbrauen verwendeten Kräutern sowie dem Ende des historischen Grutbierzeitalters.
Literatur
1. Fischer, G.; Gansohr, H.; Heizmann, B.; Herborn, W.; Schulze-Berndt, H.-G.: Bierbrauen im Rheinland. Rheinland-Verlag GmbH, Köln, 1985.
2. Verberg, S.: The Rise and Fall of Gruit. The Brewery History Society, Brewery History, 174, 2018, S. 46-78.
3. Rätsch, C.: Urbock oder echtes Bier https://www.christian-raetsch.de/Artikel/Artikel/Urbock-oder-echtes-Bier.html
4. Pause, C.: „Das Grutbier: Biergenuss ohne Hopfen“, Carl Pause (Hrsg.): Neuss und das Altbier, Neuss, 2013, 33-38.