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08.07.2024

Giganten der Biergeschichte: Richard Roesicke

Freund der Arbeiter | Hatten wir in der letzten Folge einmal die Biergeschichte aus der Sicht der Arbeiter betrachtet, machen wir gleich mit diesem Thema weiter. Denn es gab auch im 19. Jahrhundert durchaus freigeistige, den Arbeitern wohlgesinnte Brauherren. Und einer sticht da besonders hervor. In der Berliner Schultheiss-Brauerei bestimmte ein liberaler Mann lange Zeit die Geschicke der Brauerei und ihrer Belegschaft: Richard Roesicke.

Warum muss man das Wort „liberal“ in diesem Zusammenhang so hervorheben? Weil es zum einen eine gänzlich andere Bedeutung hat als heute und zum anderen nicht selbstverständlich war.

Bevor wir uns mit dem Leben Roesickes befassen, stellen wir ein wichtiges Zitat von ihm voran:

„Wenn der Staat berechtigt und berufen ist, das Eigentum der besitzenden Klassen, das Kapital der Unternehmer, durch Gesetz und Polizei zu schützen, so sehe ich nicht ein, warum er nicht verpflichtet sein sollte, die Arbeitskraft der Arbeiter, das einzige Eigentum der Besitzlosen, zu schützen.“

In der Kulturbrauerei, Berlin, finden vielfältige Kulturveranstaltungen statt (Foto: Kaspar Metz, Public domain, via Wikimedia Commons, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9a/Berlin-Kulturbrauerei.jpg)

So sprach im Normalfall kein Unternehmer, sondern eher ein Revolutionär, und erst recht nicht im Jahr 1887. Aber Richard Roesicke war damals, mit 42 Jahren, auf dem Gipfel seines Erfolges als Brauereibesitzer und ein sehr wohlhabender Berliner Bürger, der aber nicht alles für sich allein haben wollte. Wer war dieser erstaunliche Mann?

Reich, aber nicht verwöhnt

Richard Adolph Maximilian Karl Roesicke wurde am 24. Juli 1845 in Berlin geboren, mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund. Sein Vater war der bekannte Textilkaufmann Friedrich Julius Adolf Roe­sicke, Mitinhaber des Leinengeschäfts Goschenhofer & Roesicke. Der andere Name kam von seiner Mutter Pauline Goschenhofer. Der Junge besuchte von 1856 bis 1861 das Französische Gymnasium in Berlin. Nach der Primarreife absolvierte er – als ältester Sohn für die Nachfolge im Geschäft eingeplant – eine kaufmännische Lehre beim Tuchhändler Ferdinand Heuer in Frankfurt am Main.

Von klein auf lernte er den Umgang mit gebildeten und großzügigen Menschen: Prominente Künstler und Politiker gaben sich in seinem Elternhaus die Klinke in die Hand. Diese Erfahrung prägte den Jungen, der nach eigener Einschätzung zuerst gar kein Selbstvertrauen hatte.

Der Abschluss der Lehre 1864 bedeutete jedoch zugleich auch das Ende seiner Laufbahn als Tuchhändler. Im gleichen Jahr nämlich erwarb sein Vater für 210.000 Taler eine handwerkliche Brauerei in Berlin von Jobst Schultheiss. Das ganze Unternehmen bestand lediglich aus einer Gaststätte und einem weiteren Gartenausschank in der Schönhauser Allee, war aber durchaus erfolgreich. Diese Brauerei wurde nun der neue Lebensinhalt des Neunzehnjährigen. Sein Vater übertrug ihm nicht nur Anteile an der Brauerei, sondern ernannte ihn auch zum kaufmännischen Leiter.

Das war nicht ohne Risiko für den Vater, denn der junge Richard hatte doch keinerlei Erfahrung im Brauereigewerbe. Er hatte auch keine Erfahrung im Hinblick auf die mit einer solchen Position verbundene Menschenführung.

Doch er meisterte alle ihm übertragenen Aufgaben mit außergewöhnlicher Klasse. Er wuchs heran zu einem Unternehmensführer mit enormen Organisations- und Führungsqualitäten, der später auch in der Politik, hier speziell im sozialen Bereich, Herausragendes leistete.

Gemäldeporträt von Richard Roesicke (1845–1903) (Foto: Herbert Widmer, via [2])

Zeitzeugen berichten in diesem Zusammenhang gerne über das sehr innige Verhältnis zwischen Vater und Sohn, der seinen Vater als Vorbild in den Charaktereigenschaften Tüchtigkeit, ausgeprägter Klugheit, Fleiß und nie erlahmender Ausdauer sah. Das färbte offenbar ab.

Aus 10.000 hl zu Beginn führte Richard Roesicke den Betrieb in den nächsten 40 Jahren bis knapp an die Millionengrenze. Bereits drei Jahre nach Eintritt in die Brauerei wurde der junge Mann Mitinhaber des Unternehmens und begann, die Schult­heiss-Brauerei zu einem industriellen Großbetrieb auszubauen.

Die Produktion wurde an den Standort der Lagerkeller in der Schönhauser Allee 39 verlegt. 1868 erwarb er dort mehrere angrenzende Grundstücke. Dann begann ein wildes Wachstum. In 30 Jahren entstand dort ein moderner Produktionskomplex mit neuer und neuester Technik, mit Dampfmaschinen und modernen Kälteanlagen. Auch legte er besonderes Augenmerk auf das Flaschenbiergeschäft. Berlin boomte und wuchs, und mit der Stadt auch der Bierabsatz: Von knapp 350.000 Einwohnern im Jahr 1840 ging es auf fast eine Million im Jahr 1870.

Vom Handwerksbetrieb zur ­Aktiengesellschaft

1871 wandelte Roesicke die Schultheiss-Brauerei in eine Aktiengesellschaft um. Das Stammkapital bestand aus 900.000 Mark. Der Börsengang war erfolgreich – noch im gleichen Jahr wurde das Stammkapital auf 1.500.000 Mark aufgestockt.

Mit dem frischen Geld erweiterte Roesicke den Produktionsbetrieb in der Schönhauser Allee. Außerdem erwarb er weitere Brauereien, 1891 die Berliner Braugesellschaft Tivoli in Kreuzberg und 1896 die Brauerei Zum Waldschlösschen in Dessau.

In Dessau entstand in Folge ein zweiter großer Produktionsstandort der Schultheiss-Brauerei. Damit war Roesicke mit 630.000 hl zum größten Brauer Deutschlands aufgestiegen. Die Brauerei hielt diese Position bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

1897/98 stieg der Bierausstoß weiter, bis auf gut 700.000 hl, bei einem Ausfuhranteil von sensationellen 180.000 hl. Der steigende Exportanteil erforderte Maßnahmen. So wurde 1898 kurzerhand die Brauerei Borussia in Niederschöneweide als Abteilung IV erworben. Diese Brauerei lag verkehrstechnisch besonders günstig, in direkter Nähe zur Spree und zur Eisenbahn.

1900 betrug der Ausstoß bereits 850.000 hl, und Roesicke beschäftigte 1834 Personen in seinen Betrieben. Er besaß für die Bier- und Malzproduktion neun Doppelsudwerke und 18 Darren in den vier Abteilungen des Konzerns (davon drei in Berlin, eine in Dessau). In seinen Malzfabriken in Pankow bei Berlin und in Fürstenwalde waren elf Darren in Betrieb.

Der Erfolg gab ihm Mittel und Möglichkeiten, sich um Dinge abseits des Tagesgeschäfts der Brauerei zu kümmern. Sein soziales Engagement wurde immer wichtiger. Als einer der ersten Unternehmer schloss er für seine Mitarbeiter ei

Grabstätte von ­Richard Roesicke (Foto: Angela Monika Arnold, via Wikimedia Commons, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/98/Friedh%C3%B6fe_LA_Grabkapelle_Roesicke_2012-04-23_ama_fec_%2811%29.JPG)

ne betriebliche Unfallversicherung ab. Von 1890 bis 1898 war er Vorsitzender des Verbandes der Berufsgenossenschaften. Von 1886 bis 1893 war er stellvertretendes nichtständiges Mitglied des Reichsversicherungsamts.

1890 zog es ihn in die Politik. Im Deutschen Reichstag erwies er sich als engagierter Sozialpolitiker, mit großem Einsatz für Menschenrecht und Menschenwürde. Der soziale Ausgleich war ihm ein ernstes Anliegen. Er wusste, dass er auf der Seite der Glücklichen war, und tat viel, um den weniger Begünstigten zu helfen. Früh schon propagierte er ein „duales System“ aus staatlicher Hilfe der Sozialgesetzgebung und freiwilliger Unterstützung durch die Arbeitgeber. Viele Vorschläge setzte er selbst in seinen Brauereien um – ein Familienhaus, ein Kinder- und Erholungsheim sowie Spar- und Unterstützungskassen. Damit wurde er zum Vorbild für viele andere Arbeitgeber. Er wurde Mitbegründer des staatlichen sozialen Hilfswerks, des „Reichsversicherungsamtes“.  Auch dem Verband Deutscher Berufsgenossenschaften stand er fast zehn Jahre lang vor.

Sozial, aber nicht sozialistisch

Bei allem sozialen Engagement lehnte er den Sozialismus in seiner damals oft geforderten Form ab. Trotz seiner immer ausgleichenden und gerechten Anschauungen dachte er letzten Endes patriarchalisch.

Er war und blieb freisinnig, zuerst im Wortsinn, später als Mitglied der Freisinnigen Partei – im Gegensatz zu seinem elf Jahre jüngeren Bruder Gustav (1856 – 1924), der viele Jahre für die Deutschkonservative Partei (DKP) im Reichstag saß und nach dem Ersten Weltkrieg an der Gründung der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) beteiligt war.

Roesickes Freisinnigkeit rief Kritik aus den Lagern beider politischen Enden hervor. Erstaunlicherweise wurde der arbeiterfreundliche Roesicke von den Sozialisten schärfer angegriffen als die Gegenkandidaten aus dem konservativen Lager. Sie warfen ihm Eigennutz vor.

Im Berliner Bierboykott, einem acht Monate lang andauernden Arbeitskampf mit einem langen Forderungskatalog der Arbeiter, stand Roesicke natürlich auf Seiten der Arbeitgeber. Der Konflikt erhielt aufgrund seiner Länge und Schärfe viel mediale und politische Aufmerksamkeit. Roesicke war eine der treibenden Kräfte für eine Einigung, und kritisierte abschließend die „bürgerlichen Klassen“ für ihre fehlende Solidarität mit den Arbeitern härter als die Arbeiter selbst.

Überdies fand er Zeit, als Mäzen für Kunst und Wissenschaft aktiv zu sein. Nicht nur gehörte er 1883 zu den maßgeblichen Initiatoren bei der Gründung der Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei (VLB), deren erster Vorsitzender er auch wurde. Seine Fördergelder flossen bis ins zoologische Institut in Neapel.

Bis 1903 war er Abgeordneter im Deutschen Reichstag für den Reichstagswahlkreis Herzogtum Anhalt 1 (Dessau, Zerbst), den er vier Mal hintereinander gewann. Zunächst fraktionslos, schloss er sich aber um die Jahrhundertwende der Freisinnigen Vereinigung an.

Seinen letzten Wahlsieg konnte er nicht mehr genießen. Wenige Wochen nach der Wahl zum 11. Reichstag verstarb Richard Roesicke am 21. Juli 1903, drei Tage vor seinem 58. Geburtstag. Eine schwere Operation hatte er nicht überleben sollen.

Sein Grab wurde mit Kränzen überschüttet. Zahlreiche Nachrufe wiesen auf Roesickes große sozialpolitische Bedeutung hin. Sein eindrucksvolles Grab findet man bis heute auf dem St. Petri-Luisenstadt-Friedhof in Berlin-Friedrichshain.

Es ist ein von Franz Schwechten 1886 entworfenes Mausoleum. Schwechten war auch der Architekt der neuen Brauerei in der Schönhauser Allee ab 1868. Dieses Gelände und die Gebäude aus ockerfarbenem Backstein in Formen der Neorenaissance stehen heute unter Denkmalschutz und werden als Kulturbrauerei vielfältig kulturell genutzt. Im Jahr von Roesickes Tod produzierte die Schultheiss-Brauerei 937.000 hl.

Über Roesickes Privatleben ist wenig bekannt. 1893/94 beauftragte er seinen Haus-und-Hof-Architekten Franz Schwechten mit der Errichtung einer repräsentativen Villa in einem 4,5 ha großen Park, die er nach seiner Frau, mit der er seit 1872 verheiratet war, Luisenhof nannte. Die Villa, die heutige Adresse ist Templiner Straße 21, steht heute unter Denkmalschutz.

Einige wenige Charakterisierungen sind überliefert: Er war er ein Mensch von großer Tatkraft und Intelligenz, mit großem Optimismus ausgestattet. Immer wollte er etwas Neues schaffen, Abgeschlossenes und Fertiges verlor jeglichen Reiz für ihn. Das war der Schlüssel zu seinem ungewöhnlichen Erfolg.

Das Erbe verliert sich in Kriegen und der Globalisierung

Nach Roesickes Tod wurde sein Unternehmen durch Ludwig Boehme weitergeführt. 1920 wurde es durch Fusion zur „Schultheiß-Patzenhofer Brauerei AG“ erweitert. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verfügte man über 26 selbständige Braustätten und 88 Niederlassungen.

1945 verblieben dem Konzern lediglich die in den Westsektoren Berlins gelegenen vier Braustätten und einige Niederlassungen in Westdeutschland. Von West-Berlin aus begann eine neue Expansion.

1972 fand der Zusammenschluss mit der Dortmunder Union-Brauerei zur „Dortmunder Union-Schultheiss Brauerei AG“ mit Firmensitz in Dortmund statt. Das Unternehmen firmierte ab 1988 als „Brau- und Brunnen AG“.

Die deutsche Wiedervereinigung führte schließlich dazu, dass zahlreiche der früheren Schultheiss-Betriebe wieder zusammengeschlossen wurden. Die so entstandene Gesellschaft gab sich den Namen Berliner-Kindl-Schultheiss-Brauerei GmbH. Das VEB Getränkekombinat Berlin wurde 1990 aufgelöst.

Danach kam die Ostberliner Brauerei zum Unternehmen Brau und Brunnen und ist somit auch seit 2004 Teil der Radeberger Gruppe im Oetker-Konzern.

Lernen Sie in unserem Dossier: Giganten der Biergeschichte weitere herausragende Persönlichkeiten der Braugeschichte kennen.

Quellen

  1. Teich, M.: Bier, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800 – 1914, Böhlau Verlag, Wien, 2000.
  2. Borkenhagen, E.: „Bedeutende Brauer“, VLB, Berlin, 1959.
  3. Hayduck, Dr. F.: Illustriertes Brauerei-Lexikon, Parey Verlag, Berlin, 1925.
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Roesicke, abgerufen am 06.05.2024.
  5. https://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/persoenlichkeiten/persoenlichkeitenot/395-roesicke.html, abgerufen am 06.05.2024.
  6. https://www.deutsche-biographie.de/11753420X.html, abgerufen am 06.05.2024.

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