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16.10.2023

Giganten der Biergeschichte: Carl von Linde

Pate des modernen Bieres | Das 18. und 19. Jahrhundert war eine Zeit großartiger Erfindungen, die nicht nur die industrielle Revolution befeuerten. Angefangen mit dem Spinnrad „Spinning Jenny“ (um 1765) und der Dampfmaschine (1769 patentiert), führten diese Erfindungen den menschlichen Fortschritt in neue Dimensionen. Aber wohl selten hat eine einzelne Erfindung, hat ein einzelner Mensch den Fortschritt eines ganzen Industriezweigs so verändert und geprägt wie Carl von Linde und seine Kälte­maschine. Und das gleich auf mehreren Ebenen: technisch-wissenschaftlich (erstmals künstliche Herstellung der für Brauer unentbehrlichen Kälte), stilistisch (Förderung der Untergärung) und gesetzlich (Ende des Sommerbrauverbotes).

Wo will man beginnen bei einem derart langen, komplexen und erfolgreichen Leben? Am besten wohl in Oberfranken, wo der spätere Geheimrat Prof. Dr. Linde am 11. Juni 1842 in Berndorf bei Thurnau (heute Landkreis Kulmbach) zur Welt kam. Er war das dritte von neun Kindern (vier Buben, fünf Mädchen) des evangelisch-lutherischen Pfarrers Friedrich Linde und seiner Frau Franziska. Mit sieben Jahren zog der junge Carl ins Allgäu, weil seinem Vater die Pfarre St. Mang in Kempten übertragen worden war. Von 1849 bis 1865 lebte die Familie im dortigen Pfarrhaus. Als einziger der Söhne durfte Carl bis zum Abitur das Humanistische Gymnasium in Kempten besuchen, das heute nach ihm benannt ist (Carl-von-Linde-Gymnasium Kempten). Mit 19 Jahren wollte er seinen Wunsch, Ingenieur zu werden, in die Tat umsetzen, und er begann ein Studium am Polytechnikum Zürich. Seine Lehrer waren die damals recht bekannten Herren Rudolf Clausius, Gustav Zeuner und Franz Reuleaux.

Drei Jahre später wurde er ohne Abschluss zwangsexmatrikuliert, da er an einem studentischen Protest gegen den Direktor Pompejus Bolley teilgenommen hatte. Bolley war, obwohl wissenschaftlich sehr anerkannt, als Mitglied der konservativen Heidelberger Burschenschaft Franconia und für seine rigide, strenge Amtsführung stets in der Kritik. Lindes Lehrer Reuleaux verhalf ihm zu einer Lehrstelle in der Baumwollfabrik von Kottern bei Kempten. Dort blieb er nur kurz, denn er wollte auch ohne Abschluss als Ingenieur arbeiten. Wieder halfen ihm seine alten Lehrer Zeuner und Reuleaux, und so zog er 1865 nach Berlin, um in einem Zeichenbüro für Lokomotivkonstruktion zu arbeiten (Fußnote: Das Büro Borsig, in dem er arbeitete, konstruierte später Kälteanlagen). Bereits ein Jahr später zog es ihn nach München, wo er bei der neu gegründeten Lokomotivfabrik Krauss & Comp. (heute Krauss-Maffei) als Leiter des Konstruktionsbüros einsteigen konnte.

Ein Porträt Lindes aus dem Illustrierten Brauerei-Lexikon [1]

Trotz dieses umtriebigen Lebens fand er Zeit, eine Familie zu gründen. Am 26. Februar 1866 verlobte er sich in Kempten, wo er am 17. September 1866 auch heiratete. Seine Gattin, Helene Grimm, war die Tochter des Generalstaatsanwaltes in Berlin und eine entfernte Verwandte seiner Mutter. Die Ehe währte 53 Jahre. Vier seiner sechs Kinder führten später auf diverse Art und Weise das Werk des Vaters in der Linde AG fort.

1868 beendete er sein Engagement für Krauss & Comp. Er folgte dem Ruf von Karl Maximilian von Bauernfeind, dem Gründungsdirektor, zur Polytechnischen Schule München (Vorläuferin der heutigen TU München). Die Tatsache, dass Linde mit erst 26 Jahren und ohne akademischen Abschluss außerordentlicher Professor werden konnte, spricht für eine außerordentlich überzeugende Persönlichkeit. 1872 folgte dann der „ordentliche Professor“ für Maschinenlehre. Nun begannen die Zeit und die Aktivitäten, die Linde reich und berühmt machen sollten.

Große Leistung auf gutem ­Fundament

Carl von Linde wird oft als Erfinder der Kältemaschine bezeichnet. Das war er mitnichten. Genauso wie James Watt die Dampfmaschine (den Gegenpol zur Kältemaschine) nicht erfunden hat. Denn man darf die historische Vorentwicklung dieser Maschinen nicht außer Acht lassen. Linde und Watt erfanden ihre Maschinen weder im ideellen Vakuum, noch kamen sie ohne Vordenker aus. Lindes Verdienste, besonders für die Brauereien, sind jedoch unbestritten; Watts Verdienste natürlich ebenso, denn er löste deren spezifische Probleme auf geniale Art und Weise.

Kompressionsmaschinen (Kaltdampfmaschinen) zur Erzeugung von Kälte waren im Grunde nichts Neues. Die Idee, Flüssigkeiten unter dem Gefrierpunkt des Wassers zu verdampfen, war ohne Zweifel brillant. Jacob Perkins baute bereits 1834 die erste derartige Maschine (Britisches Patent No. 6662), daher gilt er allgemein als Erfinder dieser Technik. Er verwendete Schwefeläther. Shaw (1836) und der Australier James Harrison (1856) arbeiteten mit Äthyläther. Auch der Nächste, Charles Tellier in Paris, blieb – diesmal mit Methyläther – ohne durchschlagenden Erfolg. Irgendwas lief immer schief. Entweder fehlten dem Erfinder Geld, Ingenieurswissen oder unternehmerisches Können, oder die eingesetzten Kältemittel erwiesen sich als unzureichend. Zu gefährlich (giftig, brennbar), zu viel Volumen, zu hohe Drücke.

Actie der „Gesellschaft für Markt- und Kühlhallen“

Auch die andere Arbeitsweise, die Absorptionsmaschine, war weit entfernt von technischer Perfektion. Wichtigster Name auf dem Gebiet der Absorptionsmaschinen ist der Franzose Ferdinand Carré. Er stellte fest, dass das System Schwefelsäure-Wasser wegen des hohen Vakuums und der chemischen Aggressivität der Schwefelsäure ungeeignet war und ersetzte es durch ein Gemisch aus Ammoniak und Wasser. Damit waren nicht nur die größten Schwierigkeiten beseitigt, sondern es wurde auch zum ersten Male die Eignung des Ammoniaks als Kältemittel bestätigt. Ein Fakt, den Linde wohl zu nutzen wusste. Im Jahre 1859 (Linde ging noch in Kempten zur Schule) meldete Ferdinand Carré sein grundlegendes Patent auf die Ammoniak-Absorptionsmaschine an. Die Carré‘sche Absorptionsmaschine war die erste, die industrielle Bedeutung erlangte. Sie konnte stündlich 200 kg Eis produzieren und wurde auf der Londoner Weltausstellung 1862 ausgestellt.

Alles begann mit einem ­Preisausschreiben

Linde begann im Jahr 1870, sich mit dem Thema „Kälte“ ernsthaft zu befassen. Er nahm teil an einem Preisausschreiben für eine Kälteanlage zum Auskristallisieren von Paraffin aus Rohölen.

Für den gleichen Zweck war schon 1861 eine Äthyläther-Kaltdampfmaschine vom oben bereits erwähnten Harrison in den Ölwerken von Young, Meldrum & Binny in Bathgate (England) aufgestellt worden. Die Maschine war jedoch ein ständiger Quell von Feuergefahr und wurde 1864 bereits wieder aussortiert. Linde stellte bei seinen ersten Untersuchungen fest, dass die Entwicklung sowohl bei Kaltluft- als auch bei Absorptionsmaschinen bereits sehr weit fortgeschritten war und sich daher der größte Spielraum für Neuerungen bei den Kaltdampfmaschinen bot. Diese waren noch konstruktiv mangelhaft, es fehlte das perfekte Kältemittel, und niemand hatte sich bislang mit der Wirtschaftlichkeit der drei Systeme befasst.

Linde berichtete später, also nach gesichertem Erfolg, dass er sich zu Anfang drei Fragen gestellt hatte:

  1. Welches Verhältnis zwischen entzogener Wärme (Kälteproduktion) und aufgewendeter Energie ist als das naturgesetzlich höchst erreichbare zu betrachten?
  2. Welcher Arbeitsvorgang ist zur Erreichung solcher Höchstleistungen auszuführen?
  3. Wie verhalten sich hierzu die bestehenden Kältemaschinen?

Seine Antworten erschienen in seiner Abhandlung „Über die Wärmeentziehung bei niedrigen Temperaturen durch mechanische Mittel“, die 1870 im „Bayerischen Industrie und Gewerbeblatt“ erschien. Ein Blatt, bei dem er „zufällig“ auch aktiv mitarbeitete. Linde hatte die Wirkungsgrade der Kaltluft-, Kaltdampf- und Absorptionsmaschinen errechnet und festgestellt, dass keine der bis dahin gebauten Kältemaschinen mehr als ein Fünftel der naturgesetzlich erreichbaren Höchstleistung geliefert hatte. Linde prüfte und rechnete weiter und publizierte ein Jahr später im gleichen Blatt über die „Verbesserte Eis- und Kühlmaschine“. Allen Argumenten zum Trotz, hatte Linde sich bereits auf die Kaltdampfmaschinen als Sieger dieses Wettstreits festgelegt. Wie er bei dem Preisausschreiben abschnitt, ist nicht überliefert. Linde machte seinen Weg ohnehin.

Brauherren als Geldgeber, Kunden und Geschäftspartner

Im Sommer 1871 begann sich die erste Brauerei für Lindes Arbeit zu interessieren. August Deiglmayr, der Direktor der größten österreichischen Brauerei Dreher (Anton Dreher, Folge 8 dieser Reihe, BRAUWELT Nr. 50, 2021) fragte an, ob es möglich wäre, eine Kühlanlage für einen neuen Gärkeller in Drehers Brauerei in Triest zu bauen.

1873 gab es dann, am Rande des Internationalen Brauerkongresses in Wien (16. – 21. Juni), ein Treffen, das Geschichte machte: Der Münchner Brauer Gabriel Sedlmayr (Teil 1 dieser Reihe, BRAUWELT Nr. 8, 2021), der auch Deiglmayrs Onkel war ließ sich überzeugen, die Kosten für die Entwicklung einer derartigen, neuen Maschine zu übernehmen. Der fortschrittsgläubige Sedlmayr wollte den Herstellungsprozess seines Bieres in allen Schritten verwissenschaftlichen und kontrollieren. Er bot Linde auch Räumlichkeiten in München an. Linde machte sich an die Arbeit, 1873 erfolgte die erste Patentanmeldung. Die erste Maschine, gebaut in Augsburg, wurde 1875 ausgeliefert, enttäuschte jedoch die Erwartungen. Der Verdichter hatte, um Undichtigkeiten zu vermeiden, Quecksilber als Sperrflüssigkeit in den Zylindern und Glyzerin zur Schmierung und Abdichtung. Gewähltes Kältemittel war – noch – Methyläther. Diese Maschine war zu sensibel und viel zu überwachungsintensiv für die Praxis. Die Einstellung der Arbeiten ließen ein Scheitern Lindes befürchten.

Aber Linde gab nicht auf. Er trat einen Teil seiner Patente an ein neues Konsortium ab, dem auch Sedlmayr angehörte, und so erhielt er neue Geldmittel. Die Verbesserungen führten zu der neuen Ausführung mit Glyzerin als Sperrflüssigkeit. Als Kältemittel wurde jetzt Ammoniak gewählt. Diese Ausführung übertraf alle Erwartungen. 1877 erfolgte die erste Lieferung nach Triest in die Drehersche Brauerei, die Maschine blieb dort bis 1909 in Betrieb!

Darstellung der „Kälte-Erzeugungs-Anlage“ von Spatenbräu in München [4]

Doch trotz dieses Erfolgs machte sich Linde sofort nach Einbau der Maschine in Triest an eine dritte Konstruktion, wobei er sich an den bereits gebräuchlichen Gaspumpen orientierte. Hierbei ging es weniger um das Verfahren an sich als um eine konstruktive Verbesserung. Diese dritte, horizontal arbeitende Bauform erwies sich – besonders im Preis-Leistungs-Verhältnis – als die mit Abstand beste Kaltdampfmaschine am Markt. Sie wurde daher für Jahrzehnte zum Standardtyp der Linde-Kompressoren. Es folgten Lieferungen an die Mainzer Actien-Bierbrauerei und Spaten in München, 1877 an Heineken in den Niederlanden und Dieterich in Düsseldorf und 1878 an Carlsberg in Dänemark. Nur die Münchner Kollegen Sedlmayrs waren skeptisch. Spaten und Franziskaner (Sedlmayrs Bruder Josef) waren bis 1884 die einzigen Münchner Brauereien mit Linde-Maschinen, was ihnen einen weiteren Vorsprung verschaffte. Selten hat eine Zusammenarbeit so grundverschiedener Partner wie Linde, Sedlmayr und Dreher derart positive, symbiotische Erfolge für alle Beteiligten gezeigt!

Perfekte Dreieinigkeit aus Forscher, Techniker und Geschäftsmann

Linde war ohne Frage der Durchbruch gelungen. Damit begann auch der Siegeszug der Kaltdampfmaschine. Zur industriellen Verwertung wurde 1879 die „Aktien-Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen“ in Wiesbaden gegründet, wobei mit Sedlmayr und Gustav Jung von der Mainzer Actien-Brauerei gleich zwei Brauer im Aufsichtsrat saßen. Innerhalb kürzester Zeit wurde das Unternehmen führend auf kältetechnischem Gebiet. Brauereien in ganz Europa lechzten nach einem zuverlässigen Ersatz für das teure und mühsam heran zu bringende Natureis. Die letzten Winter waren, wie zum Beweis für die Notwendigkeit von Lindes Erfindung, viel zu mild gewesen. Lindes Erfindung erlaubte jetzt einerseits durch die konstant möglichen niedrigen Temperaturen die endgültige Verbreitung der immer beliebter werden untergärigen Lagerbiere, andererseits fegte sie die letzten Argumente weg, die noch für das nun überflüssige Sommerbrauverbot in der Diskussion waren.

Widmung in „Die Kältemaschinen und ihre Anlagen“ von Georg Göttsche [5]

Linde ersetzte jedoch nicht nur das Eis, er dachte und forschte gleich weiter, in Richtung Luft-, Wasser- und Solekühlung. In seiner unnachahmlichen Synthese aus Geschäftssinn, Forscher und Techniker verhalf er den Brauereien zu unfassbaren Fortschritten. Auch darin ähnelt er James Watt, der 100 Jahre zuvor zusammengefügt hat, was seinen Vorgängern nicht gelungen war: Technik, Persönlichkeit plus Geschäftssinn. Damit war Carl Lindes (das ‚von‘ folgte später) Platz in der Biergeschichte gesichert. Als Unternehmer war er danach ungeheuer erfolgreich, widmete sich auch anderen Themen und Branchen rund um die Kälte und Verflüssigung von Gasen. Er betrieb mit seiner Firma Kühlhäuser und wurde führend in der Tiefkühllogistik.

Mit seinem arbeitsreichen Leben betrieb Linde allerdings Raubbau an seiner gesundheitlichen Verfassung. Häufige Migräneanfälle und chronische Magenschmerzen waren die Folge. Ab 1895 zog er sich jeden Sommer für drei Monate in die bayerischen Berge zurück und reduzierte seine geschäftlichen Aktivitäten drastisch. Dadurch besserte sich sein Gesundheitszustand wieder und er konnte im hohen Alter auf ein grandioses Lebenswerk zurückblicken. Carl von Linde wurde 92 Jahre alt. Er starb am 16. November 1934 in München und wurde auf dem Waldfriedhof im Grab Nr. 139-W-9b bestattet.

Ruhm und Ehre bereits zu ­Lebzeiten

Linde war zwar ein unpolitischer Mensch, aber Mitglied von zahlreichen wissenschaftlichen und Ingenieurvereinigungen, die hier unmöglich alle erwähnt werden können, ebenso wie die große Anzahl an Veröffentlichungen.

1897 wurde er von Prinzregent Luitpold mit dem Ritterkreuz des Verdienstordens der Bayerischen Krone ausgezeichnet und in den Adelsstand erhoben. 1903 war er als Vorstandsmitglied an der Gründung des Deutschen Museums beteiligt. 1907 erhielt er den Maximiliansorden. 1918 wurde er Inhaber des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste.

Sogar drei Ehrendoktoren durfte der Mann ohne akademischen Abschluss sein Eigen nennen: 1897 von der Universität Göttingen, 1902 von der Technischen Hochschule Dresden und 1917 von der Technischen Hochschule Wien.

Als Ehrenmitglied der Versuchs- und Lehranstalt für Brauereien in Berlin ist er in guter Gesellschaft einiger anderer Persönlichkeiten dieser Reihe. Auch zahllose Schulen, Plätze, Straßen sind nach ihm benannt.

Eine Trivia zum Abschluss: Carl von Linde war auch als Funktionär des deutschen Eishockeys (sic!) so aktiv, dass er mit einer Aufnahme in die deutsche Eishockey Hall of Fame belohnt wurde.

Lernen Sie in unserem Dossier: Giganten der Biergeschichte weitere herausragende Persönlichkeiten der Braugeschichte kennen.

Quellen

  1. Hayduck, F.: Illustriertes Brauerei-Lexikon, Berlin, 1925.
  2. Teich, M.: Bier, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800-1914, Böhlau Verlag, 2000.
  3. Schäder, C.: Münchner Brauindustrie 1871-1945, Tectum Verlag, Marburg, 1999.
  4. Behringer, W.: Die Spaten-Brauerei, Piper Verlag, München, 1997.
  5. Göttsche, G.: Die Kältemaschinen und ihre Anlagen, Verlag für Kälte-Industrie, Hamburg, 1915.

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