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Marianna Manzur, Gründerin des „Monasterio de Las Cervezas“, und ihr Schwager Alex Manzur, zuständig für den Großhandel (Foto: Kopp)
22.05.2023

Auf dem Weg zur eigenen bierkulturellen Identität

Wachsende Vielfalt | Stark gestiegen ist die Zahl der Neugrün­dungen in der mexikanischen Braubranche. Der Biermarkt, der von Grupo Modelo (AB-InBev) und Heineken Mexiko dominiert wird, ist hart, aber nicht hoffnungslos. So tragen die zahlreichen Kleinbrauer in besonderem Maß zu einer eigenen bierkulturellen Identität des Landes bei – und damit auch zur Wertschöpfung. BRAUWELT-Autorin Sylvia Kopp reiste nach Mexiko, sprach mit den Pionieren der jungen Bierszene und entdeckte eine spannende neue Welt.

Meinen ersten Abend in Mexico City habe ich in einer Mezcal-Bar im Stadtviertel Condesa verbracht. Zur Auswahl stehen ein Dutzend Sorten unterschiedlicher Provenienz, hochprozentig und köstlich mit einem Hauch von Rauch. Wir sitzen drinnen, draußen sind alle Plätze belegt, Straßenmusiker spielen – ein unvergesslicher Abend, auch wenn ich mich nicht an alle Details erinnere. Und ein würdiger Auftakt, denn Mezcal ist ein wichtiges Getränk in Mexiko – 25 Prozent der Wertschöpfung in der alkoholischen Getränkeindustrie entfallen auf die Herstellung von Agave-Spirituosen (Quelle: Cerveceros De México). Zugleich ein deutlicher Hinweis auf die Eigenständigkeit und Besonderheit der mexikanischen Trinkkultur.

Wie die Marktdaten verraten, ist die Wertschöpfung der Brauereien mit 72 Prozent fast dreimal so hoch wie bei den Agave-Destillaten. Die jährliche Bierproduktion beträgt 134,7 Mio Hektoliter (2021, + 8,2 % im Vergleich zum pre-pandemischen 2019). Bekanntlich ist Mexiko Exportweltmeister. 42 Mio Hektoliter Bier werden ins Ausland verkauft (2021, +  4,5 % zu 2019). Allein 80,9 Prozent davon gehen in die USA. Der Pro-Kopf-Verbrauch ist mit aktuell 57,4 Litern (Statista) eher niedrig. Zwei Weltkonzerne haben den Markt fest im Griff: Grupo Modelo, die zu AB-InBev gehört (mit Marktführer Corona Extra sowie Pacifico, Modelo Especial, Victoria), und Heineken Mexico (Sol, Tecate, Dos Equis).

Neue Bierkultur

Im Schatten der Riesen wächst jedoch eine neue Bierkultur heran, die zunehmend an Eigenständigkeit gewinnt. Wohl keiner in Mexiko-Stadt weiß dies besser als der Gründer und Direktor der Académia Méxicana de Eno-Gastronomia (AMEG) Edu Villegas. „Ich bin froh, dass immer mehr Brauereien auf Qualität fokussieren. Unser Land hat mittlerweile gut ausgebildete Brauer und Bier-Sommeliers, eigene Fachpublikationen und Bierjournalismus.“ Und er betont: „Allmählich entwickelt unsere Bierkultur auch ein eigenes Profil.“ Als er 2011 seine Akademie gründete, etablierten sich gerade die ersten Craft Brauereien wie die Cervecería Wendlandt in Ensenada, Cervecería Tijuana, Cervecería Primus in Mexicali und Minerva Brewery DF in Mexiko-Stadt. Auf dem Brauplan der ersten Craft-Generation standen zu Beginn Stout, Porter, Pale Ale, IPA und belgische Stile wie Dubbel und Tripel.

Edu Villegas, Gründer und Direktor der Académia Méxicana de Eno-Gastronomia (AMEG) in Mexiko-Stadt (Foto: AMEG)

Villegas, der in den 90ern als Musiker und bildender Künstler arbeitete, erlernte Anfang der 2000er-Jahre den Beruf des Sommeliers: „Wein war meine erste Liebe“, sagt er. An einer Gastro-Schule unterrichtete er unter anderem das Fach „Andere Getränke“ und kam so mit der Craft Bier-Bewegung in Berührung. Als ein Importeur ihn das belgische „Golden Carolus Christmas“ verkosten ließ, änderte dies sein Leben. Das Aroma beeindruckte den Weinkenner Villegas zutiefst!

Das war 2006. „Von da an habe ich mich fast ausschließlich mit Bier beschäftigt“, sagt er. „Meine sensorischen Kenntnisse und Fähigkeiten konnte ich übertragen, alles andere hab ich mir selbst beigebracht.“ Er recherchierte im Internet, in Biermagazinen und Büchern, die meisten aus den USA. Inspiriert von den weinkulturellen Gesellschaften in Frankreich gründete Villegas 2008 die „Fraternidad Cervecera“. Der Bier-Tasting-Club war ein Aufsehen erregendes Novum! Die Medien stürzten sich auf die neuen anspruchsvollen Biertrinker. Dabei war der Zugang zur Biervielfalt noch stark eingeschränkt. Die wichtigste Quelle für außergewöhnliche Biere sei damals die BeerBox gewesen, eine bis heute operierende Kette von Restaurants und Bars, die auf Importe spezialisiert ist.

Aus der Arbeit mit der Fraternidad entwickelte sich die Idee für die heutige Académia. „Es tauchten zunehmend junge Brauereigründer auf, die null Ahnung von Bierstilen, Sensorik oder Qualität hatten“, so Villegas. Ganz zu schweigen von den Konsumenten. Nach wie vor unterscheiden die meisten lediglich zwischen „cerveza clara“ (helles) und „oscura“ (dunkles). „Ich sah die dringende Notwendigkeit für eine Bierschulung in dem neu entstehenden Markt“, sagt er. AMEG bildet am Hauptsitz in Mexiko-Stadt sowie in den Städten Guadalajara, Querétaro, Morelia und Puebla jährlich 120 bis 150 Studenten aus. Diese kommen auch aus anderen lateinamerikanischen Staaten. Unterrichtet wird in den Feldern Bier-Connoisseur, Bier-Sommelier und Technisches Brauen. Zudem ist AMEG offizielle Repräsentantin der deutschen Doemens Akademie und der italienischen Academia Union Birrai. Jeden Samstagnachmittag treffen sich die Alumni zum Zwickeln im Wintergarten der Bierschule. „AMEG ist keine Akademie, AMEG ist ein Kult“, erzählen mir die Eingeschworenen augenzwinkernd.

Abimelek Sagastume (2.v.li.), Co-Gründer und Betreiber der Taberna Calacas, mit seinem Service-Team (Foto: Kopp)

Einer der AMEG-Absolventen ist Abimelek Sagastume, Mitgründer und Betreiber der Taberna Calacas, die erste Craft Bier-Bar der Hauptstadt. „Mich hat beeindruckt, wie Edu uns die Bierkultur nähergebracht hat. Das wollte ich genauso an unsere Gäste weitergeben“, sagt Sagastume. Unangepasst und unabhängig, mit Totenkopf an der Wand und Metal aus den Boxen, hat sich die Taberna Calacas nicht zuletzt auch dank ihres einwandfreien Service einen Namen gemacht: stilgerecht gekühlte und sauber servierte Biere. Auf der Bierkarte stehen heimische Craft Biere und Importe. „Unsere Absicht ist, Gäste zu Bierliebhabern zu machen“, so Sagastume. Während die Taberna in diesem Jahr ihr achtjähriges Bestehen feiert, eröffnen er und seine Co-Inhaber im Stadteil Taxquena einen zweiten Standort, diesmal mit Restaurant. Und Sagastume gilt mittlerweile selbst als Referenz: „Das Schönste für mich ist, dass wir Teil der Craft Bier-Bewegung geworden sind und zum Wandel der Bierkultur beitragen.“

Zwar stieg die Zahl der Brauereien exorbitant von rund 50 im Jahr 2008 auf 1462 im Jahr 2021 (Quelle: Craft-Brauerei-Verband ACERMEX). Dennoch ist die Craft Bier-Branche in Mexiko kein Goldrausch, wie die Brauerin und AMEG-Dozentin Antonieta Carrion zu berichten weiß. Sie gründete 2015 ihre Brauerei Madrina Casa Cervecera und ist die erste Brauerin in Mexiko-Stadt mit eigener Produktionsstätte. Wie sie erzählt, sind die behördlichen Vorschriften keine Hürde. Man meldet ein Gewerbe an und zahlt Steuern. „Das schwierigste für uns Neugründer ist der Biermarkt“, so Carrion. Der Craft Bier-Anteil am Gesamtmarkt beträgt gerade mal 0,8 Prozent – und weist kaum Steigerung auf. So wundert es nicht, dass der durchschnittliche Jahresausstoß der mexikanischen Brauereien nur 450 Hektoliter beträgt. „Viele haben zusätzliche Jobs“, sagt Carrion, die ihre Fachausbildung an der AMEG sowie an der Universidad Alicante in Spanien absolviert hat. Auch sie arbeitet nebenbei für einen Immobilienmakler.

Chance in der Krise

Nicht zuletzt die Lockdown-Krise veranlasste Carrion zu einer strategischen Neuausrichtung: Statt Flaschen, Dosen und Kegs über den Großhandel an Craft Bier-Outlets im ganzen Land zu verkaufen, liefert sie nun direkt an ausgewählte Partner vor Ort. Und zwar in Kegs – weil Kleingebinde Mangelware sind. „Wir haben mit unseren treuesten Kunden begonnen, bieten ihnen bessere Preise und organisieren gemeinsame Promotionen.“ Weniger Reisezeit, vereinfachte Logistik, geringere Kosten, höhere Margen. – Carrion braut ein köstliches Cream Stout mit Kokosnuss, ein erfrischendes Session IPA, das sie mit Zugaben von Zitrusfrüchten variiert, sowie ein balanciertes Scotch Ale, das sie mit Kaffee verfeinert. Außerdem setzt sie auf „Transitional Beers“: Biere, die sich geschmacklich von der Massenware abheben, aber nicht herausfordern, wie ihr Bestseller „Madrina Kellerbier.“ Genau dieses füllt sie auch in Flaschen ab und verkauft es an weniger bieraffine Outlets wie beispielsweise Coffee-Shops.

Der Lockdown habe viele Schließungen verursacht, so Carrion, der Craft Bier-Szene aber auch eine „goldene Gelegenheit“ beschert. Nachdem die Regierung während der Pandemie der als nicht-essentiell eingestuften Braubranche den Betriebsstop verordnet hatte und das Bier in den Regalen der Supermärkte ausverkauft war, fanden viele Konsumenten ihren Nachschub in Online-Shops. Auch brandneue Apps navigierten die Durstigen zu versteckten Bierquellen. „Aus der Not heraus kamen viele Konsumenten so erstmals mit Craft Bier in Kontakt“, sagt Carrion. Dies gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Craft Bier-Szene neuen Schwung aufnimmt.

Mit der neuen mexikanischen Bierkultur ist auch das Geschäft des „Monasterio de Las Cervezas“ gewachsen. Geschäftsführerin Marianna Manzur sah in dem jungen aufstrebenden Biermarkt eine Chance, sich selbständig zu machen. Ahnung von der Materie hatte sie keine. So schrieb sie sich bei AMEG ein. 2014 eröffnete sie schließlich ein Bier-Restaurant, ein Jahr später einen Biergroßhandel. Spezialisiert auf Importe, Craft Bier und ausgewählte Industriebiere, betreibt das Unternehmen heute zwei Restaurants, zwei Bottle Shops und den Großhandel an insgesamt drei Standorten in der Stadt. Manzur erzählt: „Als wir anfingen, hat es vielleicht sechs Restaurants mit großer Bierauswahl in Mexiko-Stadt gegeben, heute sind es hunderte.“ Damals führten sie rund 100 Biere im Sortiment, heute sind es über 300. Dabei bleibt die Auswahl stets in Bewegung, nimmt aktuelle Trends, neue Marken, saisonale Spezialitäten und One-Offs auf. „Wir liefern schnell, bieten gute Preise, und neue Biere“, so Marianna Manzur. Einen nicht unerheblichen Anteil nimmt in ihrem Geschäft die Bierkunde ein in Form von Beratung, Tasting-Events, Seminaren und Social-Media-Posts.

Importe haben bei den mexikanischen Biertrinkern einen guten Stand: „Konsumenten vertrauen auf Markenqualität aus dem Ausland, während sie sich bei den Bieren mexikanischer Kleinbrauer nicht so sicher sind“, sagt ihr Schwager Alex Manzur, der für den Großhandel zuständig ist. Laut Cerveceros De México kommen 77,2 Prozent aller Bierimporte aus den USA weit vor Importen aus Belgien (7,7 %) und Deutschland (3,2 %) und weiter gefolgt von Irland und Spanien. Tendenz jedoch absteigend! Preissteigerungen und logistische Herausforderungen erschweren das Geschäft. Auch dies könnte der heimischen Craft Bier-Bewegung zugutekommen. Doch wie auch immer sich die Marktstruktur verändern mag, das Monasterio hegt Expansionspläne: Die Manzurs kündigen an, dass sie weitere Tabernas in der Stadt eröffnen werden.

Einzigartige Geschmackswelt

„Wir brauchen eine eigene Bier-Identität“, betonen Marianna und Alex Manzur, „damit wir uns von den internationalen Craft Bieren unterscheiden.“ Dies schärft auch Edu Villegas seinen Studenten ein. „Es reicht nicht aus, wenn wir darauf schauen, was die Amerikaner oder Europäer brauen“, sagt er. „Unser Land ist reich an ethno-botanischer Kultur, traditionellen Getränken und kulinarischen Genüssen. Wir haben eigene Zutaten, traditionelle Methoden und eine einzigartige Geschmackswelt. Wir können all dies nehmen und aufs Bier übertragen.“ – Mir kommen die frischgepressten Fruchtsäfte und Smoothies der zahlreichen „Juguerias“ in den Sinn. Das Glas „Pulque“, ein leichtalkoholisches Getränk aus fermentiertem Agavensaft, das ich zu meinem Barbacoa-Fleischgericht genossen habe. Oder die Michelada aus Bier, Chili, Fischsauce und Limettensaft, die zum Fischgericht gereicht wurde, sowie der Bier-Cocktail aus dunkler Gose mit Tamarinde-Saft und Chili, der mir in einer Craft Bier-Bar kredenzt wurde. Wie erzählte mir Antonieta Carrion doch gleich: „Die Mexikaner mögen es nicht so süß, lieber deftig“?

Bier-Cocktail aus dunkler Gose, Tamarinde und Chili (Foto: Kopp)

Bei den vielen tollen Bieren, die ich verkosten durfte, denke ich vor allem an das Imperial Cacao Stout „Lágrimas Negras“ von Rámuri Cerveceria aus Tijuana, das mich an den mexikanischen Kakaotrunk Champurrado erinnert: intensiv, mit cremiger Textur, aromatischer Bitterkeit und eben gar nicht süß. Oder an das überraschend fruchtige „Stout de Olla“ (6,8 Vol.-%) von Santa Sabina Cerveza Artesanal in Guadalajara, das auf „Café de Olla“ beruht, der in einem Tontopf (olla) gekocht wird. Oder „Lord Tepache“ (5,8 Vol.-%) von Cerveceros Arellano in Querétaro, eine erfrischende Gose, die geschmacklich an das aus fermentierter Ananas (Fruchtfleisch plus Schale!) hergestellte „Tepache“-Getränk erinnert. Nicht zuletzt ist auch das „Lägermaiz“ der Cervecería Hércules in Querétaro eine Reminiszenz an die mexikanische Kultur: Es verbindet mexikanischen Mais mit Hopfen und Malz.

Das Stout de Olla von Santa Sabina aus Guadalajara im Regal des Monasterio (Foto: Kopp)

Mir scheint, die mexikanischen Craft Brauer haben Villegas Rufe erhört. Und während die Weltgemeinschaft der Bierfreunde auf die aufregenden Innovationen aus Mexiko gespannt sein darf, expandiert AMEG international.

Edu Villegas bietet in diesem Jahr in den Ländern Dominikanische Republik, Costa Rica, Chile, Guatemala, Panama, Peru und USA zusammen mit Partnern vor Ort Online-Schulungen an. Die neue, absolut spannende, lateinamerikanische Weltbierregion rückt zusammen!

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