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16.01.2023

Giganten der Biergeschichte: Dr. Leopold Nathan

Verkürzter Brauprozess | Über all die Jahrzehnte und Jahrhunderte, in denen sich die Brautechnik weiterentwickelte, gab es nur zwei Ziele für alle Erfinder, Techniker und Brauer: Qualität verbessern oder Kosten senken. In der 18. Folge der Giganten der Biergeschichte stellt Ihnen Günther Thömmes einen Mann vor, dessen Werk davon geprägt war, den Herstellungsprozess beim Bier erheblich zu verkürzen – also Kosten einsparen ohne Verluste bei der Qualität: Dr. Leopold Nathan.

Der streitbare Erfinder war in vielen Dingen seiner Zeit weit voraus. Er erdachte Dinge, die heute allgemeiner Standard sind – ohne die Meriten dafür zu ernten.

Leopold Nathan wurde am 30. Juli 1864 auf Schloss Laupheim in Württemberg geboren. Im Schloss gab es eine Brauerei, die Nathans Liebe zur Gärung und zur Natur von Kindesbeinen an geweckt hatte. Da der Junge sehr schwächlich war, führte er auf Empfehlung des Arztes und seines Onkels die Schule nicht fort. Er wurde stattdessen nach Ulm zu einem Gärtner in die Lehre geschickt. Das schwache Kind wurde gesund und kräftig, seine Liebe zur Natur blieb erhalten. Nach der Lehre wollte der junge Mann an der Lehranstalt für Obst- und Weinbau in Geisenheim studieren – aber dafür war er noch zu jung. Also absolvierte er zur Überbrückung ein Gärtnereipraktikum im Palmengarten in Frankfurt. In Frankfurt lernte er auch Sprachen und Mathematik.

Nach bestandener Aufnahmeprüfung für Geisenheim belegte er außer Obst- und Weinbau die Fächer Botanik, Chemie und Physik. Neben seinem Professor Moritz Dreysen fand er besondere Beachtung bei dem Schweizer Professor Hermann Müller-Thurgau, dessen Name den meisten Weinkennern bekannt ist. Nathan wurde Gehilfe Müller-Thurgaus. In dieser Zeit beschäftigte er sich fast ausschließlich mit Blüten, Obst und Fruchtsäften. Innerhalb kurzer Zeit avancierte er zum international gefragten Experten auf seinem Fachgebiet. Er legte große Pflanzungen in Rottweil an und arbeitete im Labor am Institut in Klosterneuburg bei Wien – im Alter von nur 23 Jahren.

Von Schwächling zum Wunderkind

Über die Vergärung von Saft kam er zum Thema Hefe. Er war davon so fasziniert, dass er seine kurz zuvor übernommene Stelle in England aufgab. Er kehrte nach Deutschland zurück. Schlagzeilen zum Thema Hefe kamen zu dieser Zeit von der Carlsberg-Brauerei in Dänemark. 1888, mit 24 Jahren, reiste er nach Kopenhagen. Dort verbrachte er den Winter im Labor bei Emil Christian Hansen (siehe Teil 7 dieser Reihe, BRAUWELT Nr. 45-46, 2021, S. 1174–1177), dem Erfinder der Reinzucht für die Brauerei-Hefe. Auch im Winter 1889 ließ er sich für drei Monate von seinem Arbeitgeber in Rottweil – Kommerzienrat von Duttenhofer, einem großzügigen Pulverfabrikanten – beurlauben, um in Kopenhagen weiter zu forschen, allerdings mit Weinhefen. Das mitgebrachte Wissen nutzte er, um in Rottweil das erste deutsche Labor zur Züchtung von Weinhefen einzurichten. Eine Studienreise nach Nordamerika folgte. Dann wechselte er die Richtung: von der Gärung zur Trocknung. 1891, im Alter von erst 27 Jahren, wurde er Leiter der ersten, von ihm selbst entworfenen Obst- und Gemüsetrocknungsanlage in Rottweil.

Porträt Dr. Leopold Nathan (1864 – 1937) (Quelle: Brookston Beer Bulletin, https://brookstonbeerbulletin.com/historic-beer-birthday-leopold-nathan/)

Nach dem Exkurs zur Trocknung ging es jedoch wieder zurück zur Gärung. Nathan entwickelte ein Champagner-Schnellverfahren mit Reinzuchthefe, bei dem das spritzige Getränk in 14 Tagen fertig war – nicht erst nach zwei Jahren. Der so genannte Rottweiler Sekt war ein Erfolg. Nathan entwickelte überdies Ausschankgeräte für Sekt aus größeren Behältern. Die Kellerei Kessler in Esslingen kaufte Duttenhofer die Champagner-Fabrik ab. Die Trocknungsanlagen gingen u. a. an die Firma Knorr in Heilbronn.

Saft,  Trocknung und Hefe als Referenzen

Auf Empfehlung seines ehemaligen Professors Müller-Thurgau verlegte Nathan seinen Wohnsitz nach Zürich. Die 32 Patente aus seiner Angestelltenzeit verblieben bei Duttenhofer. Zum geplanten Studium kam es nicht, weil Nathan als Berater und Unternehmer zu sehr gefragt war.
Nachdem die Stadt Zürich in das Haus, in dem er sein Labor einrichtete, Strom und Gas gelegt hatte, wurde er zunächst für eine Konservenfabrik aktiv. Mittlerweile fand die Temperenzbewegung (Abstinenzbewegung) auch in der Schweiz viele Anhänger. Nathan wurde mit der Entwicklung eines Temperenzler-Getränks beauftragt. Er entschied sich für Äpfel als Basis seines Pomril genannten Getränks, für das er erneut in die USA reiste, um in Rochester, New York, eine geeignete Firma für die benötigten Anlagen zu finden. Pomril war ein voller Erfolg. Nathan verdiente so viel Geld, dass er damit seine neuesten Ideen umsetzen konnte – und zwar in einer Bierbrauerei.

1898 errichtete er in der Schweiz, in der Zürcher Brauerei Kramm, seine erste Versuchsanlage. 1000 Liter fassten die Glas-emaillierten, gusseisernen Gefäße. Dort experimentierte Nathan mit seinen Ideen einer neuartigen Brauerei ohne Lagerkeller, mit einer Herstellungsdauer für untergärige Biere von unter 14 Tagen. Die nächsten eineinhalb Jahre waren dort so erfolgreich, dass die komplette Brauerei mit 12 000 hl Jahresleistung auf Nathans Verfahren umgebaut wurde. Zürich war jedoch nicht der Nabel der Bierwelt, und Nathans Projekt blieb außerhalb der Stadt weitgehend unbeachtet.

Harte Zeiten in Berlin

Nathan nahm all sein Geld und beschloss, bei der VLB in Berlin mit einer Versuchsanlage sein Glück zu suchen. Berlin war jedoch ein schwieriges Pflaster, und trotz guter Expertisen war Nathans Geld nach zwei Jahren aufgebraucht. Überdies erhielt er Nachricht, dass seine Anlagen in Zürich verkauft worden waren und nun als Ramschware durch die Branche kursierten. Hinzukam eine schlechte Presse und der frühe Kindstod seiner einzigen Tochter. Leopold Nathan schien am Ende.

Er hatte bei seinem Nathan-Verfahren außer Acht gelassen, dass die großen deutschen Brauereien viel investiert hatten, um an dem starken Wachstum des deutschen Biermarkts mitzuverdienen. Niemand wollte nun von einem Prozess hören, bei dem man keine Lagertanks mehr brauchte. Nathans Vorschlag bedeutete für die deutschen Brauer mit ihren großen, neuen Lagerkellern daher keine Einsparung, sondern Mehrkosten durch Umbauten. Die von Haus aus konservativen Brauer starteten, von Berlin ausgehend, eine Kampagne gegen Nathan, die ihn an den Rand des Ruins brachte. Nathan verkaufte seine Berliner Anlage nach Schweden und verließ Berlin, um in Paris beim Pasteur-Institut unterzukommen.

Mit Hilfe von Freunden kam genügend Geld zusammen, um im Saarland, in Geislautern, 1905 eine neue Brauerei zu erbauen, die komplett dem Nathan-Verfahren gewidmet war. Die Hansena-Brauerei ging am 13. Juli 1906 in Betrieb und zeigte sich durchaus erfolgreich. Nachdem sie 1921 von der Schloss-Brauerei Neunkirchen übernommen worden war, wurde sie ab 1923 als Schloss-Brauerei Geislautern weitergeführt, bis sie nach dem Zweiten Weltkrieg wegen großer Kriegsschäden geschlossen wurde.

Eigenes Institut zur Ideenvermarktung

1912 kehrte Nathan nach Zürich zurück und gründete dort das Nathan-Institut, dessen Zweck die Verwertung seiner diversen Patente und Verfahren sein sollte. Das Institut betreute auch einige Brauerei-Neubauten, insbesondere in Übersee und im englischsprachigen Ausland. Für noch nicht entwickelte Bierländer – heute würde man sie Emerging Markets nennen –, aber auch für heiße, südliche Länder war Nathans Verfahren perfekt geeignet, da sich bei Planung und Neubau einige Kosten einsparen ließen. Daher fand das Verfahren in tropischen, heißen Ländern auch die meiste Akzeptanz. Nathan patentierte sein System zuerst in den USA, noch vor dem Ersten Weltkrieg.

Unter anderem erhielt er Patente für die Herstellung von Gefäßen (1906), einen Prozess zur Sterilisierung geschlossener Gefäße (1907), die Kunst des Bierbrauens allgemein (1918), einen Prozess für die Filtration von Bier und anderen schäumenden Flüssigkeiten (1918) sowie einen Prozess für die Eliminierung unreif riechender Komponenten beim Bierbrauen (1935). Langsam fand das Nathan-Verfahren seinen Weg von den USA über England auf das europäische Festland – aber nicht dauerhaft.

Erfolg in Australien

Zwischen den Weltkriegen wurden in Australien einige Brauereien nach dem Nathan-Verfahren gebaut: Die Walkerville Brewery aus Adelaide unterzeichnete 1925 einen Vertrag mit dem Nathan-Institut und erbaute bis 1927 in Southwark die erste Nathan-Brauerei auf australischem Boden.

Die Richmond Brauerei N.S. in Melbourne, 1927 von dem Geschäftsmann Peter Gant Hay errichtet, trug mit dem N.S. sogar das Nathan-System im Namen.

Walkerville wurde Ende der 1930er-Jahre von The South Australian Brewing Company übernommen, die das sehr beliebte Nathan Bitter weiterführte. Die neuen Besitzer ersetzten den Namen Walkerville Brewery durch Nathan Brewery. Nathan blieb bis zu seinem Tod ein umtriebiger Mensch. 1924 wurde ihm von der TU München die Ehrendoktorwürde verliehen.

Als Dr. Leopold Nathan am Heiligen Abend des Jahres 1937 in Berlin-Dahlem für immer die Augen schloss, wurden weltweit immerhin ca. 2,5 Mio hl nach seinem Verfahren produziert.

Was machte das Nathan-Verfahren so besonders?

Nathans Brauereiprozess schlug einige einschneidende Verkürzungen vor. Er widmete sich dabei speziell der Untergärung, die – damals wie heute – erheblich länger dauerte als die Herstellung obergäriger Biere. Nathans Vorschläge zielten dabei auf eine fast steril zu nennende Arbeitsweise, perfekte Trubabscheidung, stets frische Reinzuchthefe sowie, zum ersten Mal und dank geschlossener Gärung, CO2-Rückgewinnung. Er erfand einen CO2-Wascher, um unerwünschte Aromen zu entfernen und um das gewonnene, verflüssigte CO2 möglichst schnell wieder einzusetzen zu können. Sogar eine erste Druckgärung zur Reifung und schnellerem Abbau von Gärungsnebenprodukten war Teil des Verfahrens. Ebenso höhere Temperaturen (10 – 13 °C) als üblich sowie große Oberflächen mit Lamellen, damit Trub und Hefe sich besser absetzen konnten. Alles erstaunlich modern – und der damaligen Zeit weit voraus. Zur energiesparenden Isolierung der Tanks war Kork vorgesehen.

Das Besondere seines Verfahrens waren jedoch neuartige Tanks mit Konus und Konuskühlung – und das vor über 100 Jahren. Nathan hätte als Erfinder des heute allgegenwärtigen ZKTs in die Biergeschichte eingehen können. Nathans Werk hatte, außer in Australien und teilweise in den USA und England, leider keine Nachfolger. So dauerte es bis in die 1960er-Jahre, bis die ersten ZKTs moderner Prägung eine Revolution der Gärtechnik auslösten. Dr. Leopold Nathan geriet zu Unrecht in Vergessenheit.

Lernen Sie in unserem Dossier: Giganten der Biergeschichte weitere herausragende Persönlichkeiten der Braugeschichte kennen.

Quellen

  1. Dr. Max Delbrück: Illustriertes Brauerei-Lexikon, Parey, Berlin, 1910.
  2. Mikuláš Teich: Bier, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800–1914, Böhlau Verlag, Köln, 2000.
  3. https://www.beeretseq.com/leopold-nathan-unsung-hero-of-modern-brewing/ (abgerufen am 3.11.2022).
  4. https://brookstonbeerbulletin.com/historic-beer-birthday-leopold-nathan/ (abgerufen am 3.11.2022).
  5. https://www.brewsnews.com.au/2013/07/29/the-nathan-system-in-australia/ (abgerufen am 3.11.2022).
  6. https://en.wikipedia.org/wiki/Peter_Grant_Hay (abgerufen am 3.11.2022).
  7. https://stadtarchiv.voelklingen.de/bauakte-der-hansena-brauerei-geislautern/ (abgerufen am 3.11.2022).
  8. BRAUWELT Nr. 64, 1962, Sonderdruck.
  9. BRAUWELT Nr. 7, 2018.
  10. Die Brau- und Malzindustrie Nr. 2, 1908.
  11. Die Brau- und Malzindustrie Nr. 3, 1938, Sonderdruck.
  12. Schweizer Brauerei Rundschau, Ausgabe Januar 1938, Sonderdruck.

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