21.11.2022

Giganten der Biergeschichte: Richardson, Balling & Co.

Saccharometer | Die Verwissenschaftlichung des Brauprozesses begann im 18. Jahrhundert. Während im 19. Jahrhundert die Dampfmaschine und später die Eismaschine für rasanten Fort­schritt bei der Produktion sorgten, waren drei eher unscheinbare Erfindungen bereits früher entscheidend – das Thermometer, das Mikroskop und das Saccharometer. Das Saccharometer war ein wichtiges Werkzeug für Brauer. Denn wie sonst konnte der Brauer den Extraktgehalt seiner Würze bestimmen oder den Vergärungsgrad?

Und nicht nur die Brauer, auch der Staat hatte Interesse an präziseren Zahlen. Denn die Steuern wurden bis dahin noch nach dem Malzverbrauch bestimmt, obwohl es eigentlich Bier- bzw. Alkoholsteuern waren. Von einer exakten Messung profitierten somit die Brauer – für die Reproduzierbarkeit ihrer Produkte – und auch der Fiskus. Da die Erfindung des Saccharometers jedoch nicht einem einzelnen Menschen zugeordnet werden kann, wagen wir diesmal einen umgekehrten Blick: Nicht vom Menschen aufs Werk, sondern vom Werk auf die Menschen, die an seiner Entwicklung und Einführung in den Brauereien maßgeblich beteiligt waren. Und wir begegnen dabei auch einigen alten Bekannten.

Der französische Chemiker Antoine Baumé (1728 – 1804) erfand 1768 ein Gerät, das Aräometer genannt wurde und nach dem archimedischen Prinzip des Auftriebs arbeitete. Mit diesem Vorläufer des Saccharometers konnte Baumé erstmals die Dichte von Flüssigkeiten bestimmen und damit internationale Anerkennung gewinnen. Allerdings arbeitete er offenbar mit reinen Zuckerlösungen, nicht mit Bierwürze. Ein anderer berühmter Franzose, Joseph Louis Gay-Lussac (1778 – 1850), dehnte Baumés Überlegungen auf alkoholische Lösungen aus, aber bedachte eben auch noch nicht speziell die Bierwürze und das Bier.

Pioniere des Brauerei-Saccharometers

Im Jahre 1784 hatte in England ein Forscher namens John Richardson ein erstes funktionierendes Saccharometer für Brauereien entwickelt und im selben Jahr öffentlichkeitswirksam publiziert („Statistical Estimates of the Materials of Brewing, Or, A Treatise on the Application and Use of the Saccharometer“). In Deutschland wurden Richardsons Erkenntnisse bereits 1788 unter dem Titel „Vorschläge zu neuen Vortheilen beym Bierbrauen“ von Wittekopp (Berlin und Stettin) veröffentlicht. Ein wissenschaftlicher Theoretiker, der sich an die Praktiker wandte, das war damals etwas Neues. Richardsons Ansatz war brillant, aber nicht perfekt. Und so erfuhr seine Erfindung in den nächsten Jahren einige Verbesserungen – nicht alle nützlich –, wobei die dabei auftauchenden Namen Baverstock, Dring, Allan oder Bate weitgehend vergessen sind.

Der uns bereits aus dieser BRAUWELT-Reihe bekannte Sigismund Friedrich Hermbstädt (s. Teil 4 dieser Reihe, BRAUWELT Nr. 31-32, 2021, S. 792–794) entwickelte 1813 dann das erste funktionierende Saccharometer in Deutschland. Allerdings erzielte es in der Praxis keinen Durchbruch, wenngleich es in der Fachliteratur durchaus anerkennend erwähnt wurde.

Die Brauer in Deutschland waren zu dieser Zeit technisch weit hinter England zurückgefallen, und der Prophet im eigenen Land war weniger wichtig als das, was von der Insel jenseits des Kanals kam. Ein Zitat aus einem Fachbuch von 1900: „Der große Wert, welchen das Saccharometer für die Brauerei hat und welcher in England schon längst anerkannt ist, wurde zur Kenntnis des intelligenteren Teils der damaligen Brauer bei uns durch Gabriel Sedlmayrs Sen. in München und Anton Dreher in Schwechat gebracht, welche im Jahre 1833 gemeinschaftlich nach England reisten und bei dieser Gelegenheit das englische Instrument nebst dessen Gebrauch in Deutschland einführten.“

Zeichnungen Saccharometer – links von Joseph Long, rechts von Karl Balling (Quelle: Fachbuch Thausing [3])

Das Saccharometer, das Sedlmayr (Teil 1, BRAUWELT Nr. 8, 2021, S. 203–205) und Dreher (Teil 8, BRAUWELT Nr. 50, 2021, S. 1298–1301) mitbrachten, war dann allerdings keines von Richardson. Es hieß nach seinem Hersteller, dem Londoner Joseph Long, Long’sches Saccharometer. Er war der Einzige, der Richardsons Gerät im Jahr 1824 so hatte verbessern können, dass er damit Erfolg hatte. Es zeigte allerdings nicht den Extraktgehalt an, sondern das spezifische Gewicht, das man dann über Tabellen etwas umständlich umrechnen musste.

Ballings bahnbrechende Neuentwicklung

Den großen Durchbruch zur Extraktanzeige verdanken wir Karl Josef Napoleon Balling. Am 21. April 1805 im nordböhmischen Gabrielahütten geboren, studierte Balling von 1820 bis 1823 Bergrecht sowie Chemie am Polytechnikum in Prag. Anschließend setzte er sein Studium an der Karls-Universität Prag fort und absolvierte ein Praktikum im Hüttenwerk Zbirow bei Pilsen. Danach wurde er Assistent für Chemie am Polytechnikum in Prag und übernahm 1833 nach dem Tod von Prof. Steinmann dessen Lehrstuhl für Chemie mit Vorlesungen über die Zuckerfabrikation, Gärungschemie und Metallurgie. Am 16. Juli 1835 wurde er zum Professor für Allgemeine Chemie und Technische Chemie berufen. 1866 wurde er Rektor des Polytechnikums in Prag.

Karl Josef Napoleon Balling (1805 – 1867) (Quelle: Jan Vilím, Public domain, via Wikimedia Commons)

Soweit die biografischen Fakten. Was jedoch veranlasste Autoren wie z. B. Dr. Max Delbrück (Teil 9, BRAUWELT Nr. 4, 2022, S. 98–100) in seinem „Illustrierten Brauerei-Lexikon“ (1910), den Hüttenwesen-Experten Balling als „Altvater der Zymotechnik“ und „Begründer der Attenuationslehre“ zu bezeichnen? Balling hatte ein besonderes Faible für zuckerhaltige Lösungen und ihre Vergärung und leistete dabei eine bahnbrechende Neuentwicklung. John Richardson hatte etwa 50 Jahre zuvor erstmals nicht nur den Begriff des „Saccharometers“, sondern auch den der „Attenuation“ (Verdünnung) geprägt und damit als Erster ausformuliert, dass Bierwürze durch die Vergärung zu Alkohol „verdünnt“, also leichter wird. Richardson hatte das Problem der durch Gärung leichter werdenden Würzen allerdings nicht zufriedenstellend lösen können.

Balling nahm offenbar als Erster an, dass Bierwürze „Rohrzucker“ enthält und nicht aus einem „zuckerartigen Wesen namens Saccharum“ besteht. Er setzte ihr spezifisches Gewicht mit einer Rohrzuckerlösung gleich. Damit schien das Problem, einen Zusammenhang zwischen Extraktgehalt und spezifischem Gewicht zu kennen, gelöst. Das war ein Denkfehler, der später korrigiert wurde, zu dieser Zeit aber unerheblich war, denn Ballings Ideen brachten die Sache enorm voran. Er fasste die stöchiometrischen Beziehungen zwischen Extrakt und Alkohol nun in mathematischen Formeln zusammen und konstruierte ein dazu passendes Saccharometer. Er schrieb auch entsprechende Extrakttabellen. Das führte dazu, dass man nun – Kenntnis der ursprünglichen Stammwürze vorausgesetzt – erstmals den Alkoholgehalt und den Restextrakt des fertigen Bieres feststellen konnte. Balling stellte auch als Erster fest, dass es einen Unterschied gab zwischen scheinbarem und wirklichem Extrakt und der entsprechenden Vergärungsgrade. Er fand Formeln dafür, die bis heute noch in Gebrauch sind.

Der Fiskus half mit

Das österreichische Finanzministerium war just zu dieser Zeit auf der Suche nach einer Möglichkeit, Extrakt- und Alkoholgehalt schnell und zuverlässig messen zu können. Es akzeptierte Ballings Erkenntnisse als offiziellen Standard. Das Balling-Saccharometer wurde somit anerkanntes Kontrollinstrument – sowohl für die Brauer als auch für den Fiskus. Damit verbreitete sich die Erfindung genauso schnell wie der Ruf des Erfinders. Der schien Balling wichtig zu sein, denn in seinen Werken erwähnte er Richardsons Erkenntnisse, auf denen er aufbaute, ebenso wenig wie seine mathematischen Zuarbeiter. Ballings Werk, „Die saccharimetrische Bierprobe“, erschienen 1843 in Prag, wurde zum langjährigen Standard in den Brauereien. Es folgten 1845 sein großes, vierbändiges Werk „Die Gärungschemie“ sowie 1855 die „Anleitung zum Gebrauche des Saccharimeters“. Alle seine Bücher erschienen in mehreren Auflagen.

Als Balling am 17. März 1868 in Prag verstarb, war er eine landesweit anerkannte Koryphäe und schon zu Lebzeiten hochdekoriert. Er wurde 1854 mit dem Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens ausgezeichnet, erhielt diverse Auszeichnungen für Wissenschaft und Kunst und war korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Zudem wurde er Träger der k.u.k. österreichischen großen, goldenen Medaille für Wissenschaften und Künste und war Mitglied der königlich-böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag. Auch wenn seine Berechnungen später noch korrigiert wurden, galten die „Grad Balling“ bis ins 20. Jahrhundert hinein als Standard der Stammwürze-Messung im Deutschen Reich, und Balling wurde somit zum Altvater der Zymotechnik.

Zum Schluss kamen Brix und Plato

Der Direktor der königlich-preußischen Normal-Eichungskommission, Adolf Ferdinand Wenceslaus Brix (1798 – 1870), fügte später Ballings Werk leichte Korrekturen hinzu, die aber mehr von den Wein- und Zuckerproduzenten übernommen wurden. „Grad Brix“ ist bei ihnen bis heute die übliche Einheit.

Die heute in den meisten Brauereien üblichen „Grad Plato“ verdanken wir dem deutschen Ingenieur und Chemiker Dr. Fritz Plato. Plato lebte von 1858 bis 1938 und war Direktor des Deutschen Instituts für Maße und Gewichte, offiziell kaiserlicher Geheimer Regierungsrat und Mitglied der kaiserlichen Normal-Eichungskommission. Ansonsten gibt es zu seiner Person wenige biografische Details. Im Jahr 1900 veröffentlichte er eine auf Balling beruhende Tabelle, mit der er dessen System weiterentwickelte und dabei den Begriff Grad Plato einführte. Nach einigen anderen Veröffentlichungen Platos ab 1895, die sich alle mit der Dichte von Flüssigkeiten mit und ohne Alkohol beschäftigten, folgte 1912 „Der praktische Faßeichmeister: Ein Hand- und Hilfsbuch für Eichmeister, Brauereibesitzer, Küfer usw.“ im Springer-Verlag, Berlin. Dieses Buch ist bis heute erhältlich.

Ein Grad Balling und ein Grad Plato sind zwar beinahe gleichwertig, dennoch setzte Plato sich durch – zumindest im deutschsprachigen Raum. Grad Balling ist in englischsprachigen Ländern bei der Bestimmung des Mostgewichtes im Wein erhalten geblieben. Die dortigen Brauer arbeiten meist nach wie vor mit dem spezifischen Gewicht, im Grunde noch mit dem Long’schen Saccharometer.

Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass das Saccharometer irgendwann nicht mehr benötigt werden sollte.

Nachtrag August Steinheil

Lernen Sie in unserem Dossier: Giganten der Biergeschichte weitere herausragende Persönlichkeiten der Braugeschichte kennen.

Quellen

  1. Dr. Max Delbrück: Illustriertes Brauerei-Lexikon, Parey Verlag, Berlin, 1910.
  2. A. F. Zimmermann: Lehrbuch der Bierbrauerei, Schroeder Verlag, Berlin, 1852.
  3. Julius E. Thausing: Malzbereitung und Bierfabrikation, 5. Auflage, J. M. Gebhardt’s Verlag, Leipzig, 1898.
  4. Emil Leyser: Die Malz- und Bierbereitung, Max Waag Verlag, Stuttgart, 1900.
  5. Mikuláš Teich: Bier, Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland 1800 – 1914, Böhlau Verlag, Wien, 2000.
  6. Jaroslav Dworsky, Karl Lense: Katechismus der Brauereipraxis, Datterer Verlag, München, 1940.
  7. Karl Hennies; Robert Spanner: Die Brauerei im Bild, Hans Carl Verlag, Nürnberg, 1949.
  8. Prof. Ludwig Narziß: Abriß der Bierbrauerei, Enke Verlag, Stuttgart, 1986.
  9. T. R. Gourvish, R. G. Wilson: The British Brewing Industry 1830 – 1980, Cambridge University Press, Cambridge, 1994.
  10. https://austria-forum.org/af/Austria Wiki/Karl_Josef_Napoleon_Balling (abgerufen am 2.8.2022).
  11. https://ehive.com/collections/3359/objects/86231/saccharometer (abgerufen am 2.8.2022).

Brauwelt-Newsletter

Newsletter-Archiv und Infos

Pflichtfeld