Giganten der Biergeschichte: Prof. Ludwig Narziß
Kompetente Persönlichkeit | Prof. Ludwig Narziß ist die erste Persönlichkeit dieser Reihe, die der Autor persönlich gekannt hat. Der Autor gehörte zum letzten Jahrgang (Dipl. Braumeister 1991), der bei Prof. Narziß die Abschlussprüfung ablegen durfte. Von daher ist diese Folge mit einer Mischung aus Wehmut und Stolz verbunden. Wehmut, dass Prof. Narziß nicht mehr unter uns weilt; Stolz, weil er dieses Porträt wirklich verdient hat. Der Autor ist froh, ihn zu Lebzeiten gekannt zu haben.
Professor Ludwig Narziß war ein Phänomen. Seine fachliche Kompetenz stand stets außer Frage. Aber was seine Prominenz letztendlich ausmachte, das war seine Persönlichkeit, die weit über die eigentliche Kompetenz hinausging. Stets freundlich und umgänglich, niemals professoral-überheblich oder gar herablassend, dazu mit einem überragenden Namens- und Personengedächtnis gesegnet, war es immer wieder überraschend und erfreulich, ihm zu begegnen; auf Fachmessen, bei Jahrgangstreffen, bei Weihenstephanertreffen. Und immer wusste er, mit wem er sprach. Selbst im hohen Alter vergaß er nur wenig, blieb bescheiden und abgeklärt.
Und es ist endlich einmal möglich, einen „Biergiganten“ selbst aus seinem bewegten Leben erzählen zu lassen. Denn neben zahlreichen Veröffentlichungen geben viele interessante Interviews Einsichten ins Leben und Werk von Professor Ludwig Narziß. Und es bietet sich gleichzeitig eine wunderbare Möglichkeit, die Geschichte der TU-Weihenstephan nach dem Zweiten Weltkrieg mit einzufangen.
Ein Münchner Kindl in Nürnberg
Ludwig Wendelin Oskar Narziß, wie er mit vollem Namen hieß, wurde am 30. September 1925 in München geboren, wo sein Vater als Direktor beim Hacker-Bräu fungierte. Er war also bereits von klein auf mit Brauereien vertraut.
Bald erfolgte der Umzug nach Nürnberg, der Vater wurde Prokurist bei Lederer und der Sohn verlebte seine Kindheit und kurze Jugend im Fränkischen. Kurz, weil der Zweite Weltkrieg dieser ein Ende setzte. Der junge Mann wurde in den unseligen Krieg verwickelt und kam für kurze Zeit in Kriegsgefangenschaft.
Als er im Juni 1945 heimkehrte, hatte sein Vater schon Pläne für den Sohn gemacht: Er sollte bei der Brauerei Tucher eine kaufmännische Lehre beginnen. Tucher und Lederer sollten fast 50 Jahre später fusionieren, aber schon damals gab es eine freundschaftlich-nachbarschaftliche Beziehung. Auch der junge Ludwig hatte bereits entsprechende Kontakte. Ohne Rücksprache mit dem Vater ging er zum Tucher-Braumeister Max Hecht und fragte um eine Lehrstelle als Brauer an. Er bekam sie und versicherte später immer wieder gerne, das sei die richtige Entscheidung gewesen – eine der wichtigsten seines Lebens.
Die Lehrzeit war hart, auch aufgrund der vielen Kriegsschäden in Nürnberg. So musste er zur Mälzerei-Ausbildung von der zerstörten Tucher-Mälzerei zur 50 Kilometer entfernten Malzfabrik Sulzbach ausweichen.
Im Oktober 1947 erfolgte die Lossprechung als fertiger Brauergeselle – aber er fand keine Stelle als Brauer. Die Brauereien produzierten nur Dünnbier, und junge Brauer waren wenig gefragt.
Es zog ihn jedoch ohnehin zum Studium nach Weihenstephan. Die sechs Monate bis zum Studienbeginn überbrückte er mit unentgeltlicher Arbeit bei der Landesgewerbeanstalt in Nürnberg, wo er sich mit Analysen befasste.
Ab dem Frühjahr 1948 fristete er zu Beginn ein Studentendasein, das an Carl Spitzwegs Bilder erinnert: ein eiskaltes Bauernhaus in Vötting als „Studentenbude“, so kalt, dass ihm nach eigener Erinnerung einmal die Nase an der Bettdecke angefroren sei. Aber immerhin bekam er jeden Morgen einen halben Liter Milch, schön und viel für die damalige Zeit.
Ab dem zweiten Semester kümmerte sich sein Lehrmeister Max Hecht um seinen Brauerburschen: Hechts Schwager und dessen Frau verlangten geradezu, dass Ludwig zu ihnen nach Freising kam. Natürlich nicht umsonst. Denn der Schwager war auch geschäftstüchtig und legte Ludwig gleich einmal, für dasselbe Geld, einen zweiten Studenten mit ins Zimmer. Dieser Student hieß Helmut Höfter. Auf diese Art entstand eine lebenslange Freundschaft.
Wissenschaftliches Studium ohne Mathematik
Die drei Jahre des Studiums begannen mit Physik und Chemie, dann ergänzt durch Biologie, Mikrobiologie, Buchführung und Bilanz. Später wies er gerne auf den Umstand hin, dass die Mathematik damals kein eigenes Fach war. Worüber er jedoch nicht unfroh war, denn es hätte ihm als mäßigen Mathematiker den Notendurchschnitt verschlechtert. An das lernintensive Studium erinnerte er sich auch mittels Anekdoten, er sei oft beim Lernen um den Tisch herumgelaufen, um nicht einzuschlafen.
In den ersten drei Jahren nach dem Krieg hatten die Studenten noch eigenes Heizmaterial für die Hörsäle mitbringen müssen. Ludwig Narziß gehörte also ab 1948 schon zu einer eher privilegierten Generation von Studenten. Die Hörsäle haben sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg nicht sehr verändert. Hörsaal 6 war, aufgrund der starken Sonneneinstrahlung, der „Schlafsaal“. Hörsaal 4 war in der Brennerei und gegenüber der Versuchsbrauerei Hörsaal 10. Chemie und Physik fanden im Hörsaal 7 statt, am Löwentor in der Alten Akademie. Das war der größte Saal, denn die stattliche Zahl der 120 Brauerstudenten wurde bei diesen Lesungen ergänzt von einer noch größeren Zahl an Studenten der Landwirtschaft. Berührungspunkte gab es allerdings sonst wenige. Anfangs noch über die Studentenverbindung der Agilolfen, aber nach Gründung der Landsmannschaft Bavaria schloss sich Ludwig Narziß dieser an.
Als Professoren lehrten damals Professor Reindl (Chemie) und Professor Frank (Physik). Professor Frank führte den auch später legendären „Schuss in die Wasserkiste“ ein. Auch hier ein Nachkriegskuriosum: Deutsche durften ja nicht schießen. Also wurde ein Polizist engagiert, mit einem Amerikaner als Aufsicht. Beim ersten Mal war der Saal so voll, dass man Angst haben musste, die Empore könnte einstürzen. Der Polizist schoss erst einmal daneben, bevor es unter großem Gejohle dann doch klappte. So hatten die Studenten ihr Spektakel und die Universität Weihenstephan keinen Ärger. Und beim nächsten Mal durfte Professor Frank, nachdem er ausführlich die Theorie der Druckausbreitung erläutert hatte, selbst den Schuss abgeben.
Als Franks Nachfolger in Physik kam Professor Asselmeyer – und die Durchfallquoten stiegen so lange, bis öffentlicher Druck verlangte, dass er sich zurücknahm.
Herr Aufhammer lehrte Gerstenkunde, Herr Staller kam aus Hüll mit Lehrstoff zum Hopfen angereist. Das, was nur wenig später als „Technologie“ im Lehrplan stehen sollte, gab es damals noch nicht. Auch wenn schon die passenden Lehrer kamen: Professor Karl Schuster aus München oder Professor Franz Weinfurtner, seines Zeichens Laborleiter des Hacker-Bräus. Direktor Kaiser von der Staatsbrauerei ließ es sich nicht nehmen, den Studenten höchstpersönlich die Betriebswirtschaft zu lesen, während sein Prokurist Buchführung und Bilanz übernahm. Dazu kamen Gastdozenten über VWL und Jura. Weil es damals keine Mitschriften gab, fertigte der Student Narziß ein Skript über VWL an, das wohl rasante Verbreitung fand.
Vom Studium in die Praxis
1951 beendete er das Studium mit Erfolg und ging sofort zurück nach Nürnberg. Bei der Landesgewerbeanstalt kannte man noch den ehemaligen Praktikanten und er wurde als Betriebsberater eingestellt. Hier, im Außendienst der Versuchsanstalt für Bierbrauerei, lernte er auch seine Frau Dorle kennen. Das Engagement bei der LGA dauerte allerdings nur zwei Jahre, denn dann fragte Professor Weinfurtner aus Weihenstephan an, ob sein ehemaliger Student nicht bei ihm promovieren wolle. Die Staatliche Brautechnische Prüf- und Versuchsanstalt (heute Forschungszentrum Weihenstephan für Brau- und Lebensmittelqualität) bot ihm die Möglichkeit zur Promotion. Das Thema war „Der Einfluss der Heferasse auf die Bierqualität“. Ab 1956 durfte er sich dann Doktor nennen.
Nach der Promotion zog es Ludwig Narziß erst einmal wieder zurück in die Privatwirtschaft. Die Löwenbrauerei München suchte einen neuen Ersten Braumeister und Prokuristen. Acht Jahre lang steuerte er die Geschicke des Löwenbräus, bevor er 1964 als Nachfolger von Karl Schuster auf den Lehrstuhl für Technologie der Brauerei I an die Hochschule Weihenstephan berufen wurde. Er übernahm auch dessen Leitung der Bayerischen Lehr- und Versuchsbrauerei. Satte 28 Jahre lang war er Inhaber dieses Lehrstuhls, lehrte, bildete aus und prägte Generationen von Studierenden. Kaum eine wegweisende Neuerung in der Brauereitechnik und -technologie dieser Zeit, die Professor Narziß nicht entweder angestoßen oder begleitet hat. Sein Ansatz war stets, die Probleme der Praxis durch die Wissenschaft zu lösen. Der Schulterschluss zwischen akademischer Forschung und der alltäglichen Praxis war ihm ein Grundbedürfnis.
1992 wurde er emeritiert und übergab die Agenden des Lehrstuhls an Professor Werner Back. Er war aber danach immer noch sehr umtriebig und geschätzt als Berater bei Behörden, Verbänden und Brauereien weltweit.
Aktiv als Doktorvater und Autor
In seiner aktiven Zeit hat Professor Narziß Hunderte von Diplomanden und etwa 50 Doktoranden zu akademischen Lorbeeren verholfen. Mit vielen von ihnen stand er viele Jahre danach noch in freundschaftlichem Kontakt. Nicht nur dadurch knüpfte er ein weltweites Netzwerk, das den Ruf der Weihenstephaner Brauwissenschaft über alle Kontinente verbreitete.
Internationale Anerkennung erhielt er auch durch seine zahlreichen Veröffentlichungen, von denen nicht nur der Klassiker „Abriss der Bierbrauerei“ noch heute wohl in keiner Brauerei fehlt.
Seit 2015 wird jährlich der „Ludwig-Narziß-Preis“ verliehen, für die wissenschaftliche Veröffentlichung in der Fachzeitschrift BrewingScience, deren Ergebnisse von größter Relevanz für die Brauerei-Praxis sind. Das war alles andere als eine Überraschung, galt er doch als einer der größten Antreiber des Dialogs zwischen Brauwirtschaft und Brauwissenschaft.
Ein gutes Beispiel für seinen internationalen Ruf war 1979 die Wahl zum Präsidenten der European Brewery Convention (EBC) in Brüssel. Bis heute ist er der einzige Ehrenpräsident der EBC.
Im September 2019 verlieh ihm die TU München „in Würdigung seiner herausragenden wissenschaftlichen Pionierleistungen, die auf dem Gebiet der Brau- und Getränketechnologie internationale Maßstäbe der Forschung gesetzt haben, und für seine richtungsweisenden Lehrbücher und Monographien zur Brautechnologie“ die Ehrendoktorwürde (Dr.-Ing. e.h.).
Als weitere Ehrungen erhielt er den Bayerischen Bierorden (1979), den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland (Verdienstkreuz am Bande, 2007), den Bamberger Bierorden (2016), die Goldene Bürgermedaille der Stadt Freising (2018) sowie den Bayerischen Verdienstorden (2019).
Lebensabend und Abschied
Im Jahr 2021 zog er aus Freising fort, wo er lange Jahre gelebt und gearbeitet hatte, und fand ein neues Zuhause in der Nähe von Reutlingen, wo seine Familie wohnt. Auch wenn er weniger reiste, hielt ihn die Arbeit an seinen Büchern geistig beweglich. Er hielt telefonisch Kontakt zu Freunden und Weggefährten und freute sich stets über Besuch.
Als Professor Ludwig Narziß am 29. November 2022 im Alter von 97 Jahren verstarb, trauerte eine ganze Branche. Denn jeder in der Brauwirtschaft wusste, dass sie einen ihrer ganz Großen verloren hatte.
Das Requiem am 16. Dezember 2022 füllte den Freisinger Dom denn auch in ungewöhnlichem Ausmaß. Delegationen des Campus und der Universitäten, der Staatsbrauerei Weihenstephan, des Brauerbunds, der Studentenverbände und vieler anderer Organisationen füllten das Kirchenschiff. Dekan Stephan Rauscher, Pfarradministrator des Pfarrverbandes St. Korbinian, zelebrierte die ergreifende Feier. Ein Mann war gestorben, an den wir uns alle gerne erinnern.
Lernen Sie in unserem Dossier: Giganten der Biergeschichte weitere herausragende Persönlichkeiten der Braugeschichte kennen.
Quellen
- https://brauwelt.com/de/karriere/personen-und-positionen/645072-prof-ludwig-narzi%C3%9F-verstorben (abgerufen am 17.07.2023).
- BRAUWELT Sonderausgabe 23.04.2021 – 75 Jahre BRAUWELT, https://brauwelt.com/de/themen/bier-braugeschichte/642939-75-jahre-seite-an-seite-mit-der-braubranche-die-brauwelt (abgerufen am 17.07.2023).